Rajko Eichkamp ist Publizist und lebt in Berlin. Er veröffentlicht in der Zeitschrift „Bahamas“ in unregelmäßigen Abständen. Seine Texte hinterfragen linke Selbstverständlichkeiten und gängige Freund-Feind-Erklärungen. Frederic Eylenstein ist Mitglied von Platypus und sprach mit Eichkamp über aktuelle Umbrüche in der internationalen Politik und deren Bedeutung für die Linke. Das Interview fand am 2. Dezember 2017 statt.
Frederic Eylenstein: Herr Eichkamp, sind Sie als Publizist politisch aktiv?
Rajko Eichkamp: Meine politische Aktivität beschränkt sich in großen Teilen darauf, durch Texte und Vorträge zu intervenieren. Das hat damit zu tun, dass ich zumindest auf linker Seite momentan keine praktischen Ansätze erkennen kann, die nicht in die falsche Richtung führen. Insofern würde Aktivität dem kritischen Gehalt meiner Intervention eher widersprechen. Das ist natürlich ein Zustand, der nicht sehr befriedigend ist. Aber ich hoffe, dass diese theoretischen Interventionen, die vor allen Dingen mittels der Zeitschrift Bahamas erfolgen, in irgendeiner Weise – vielleicht ähnlich wie Ihr Projekt – dazu führen, dass wir uns wieder betätigen können – guten Gewissens und klaren Verstandes.
Als Objekt der Intervention haben Sie die Linke gewählt. Wieso gerade die Linke?
Das hat damit zu tun, dass ich selbst ein Linker bin. Außerdem hänge ich einem orthodoxen Marx-Verständnis an, das den Interventionen in andere gesellschaftliche Gruppen eher entgegensteht. Wiewohl ich aber trotzdem – spätestens seit den Zeiten der zweiten Intifada – mich nicht scheue, mit als konservativ geltenden Menschen und Gruppen zu arbeiten. Entsprechend wird die Bahamas auch von Menschen wahrgenommen, denen es darum geht, die Restbestände von Zivilität, die in der nachbürgerlichen Gesellschaft noch vorhanden sind, zu verteidigen. Das wären nicht unbedingt Menschen, die meine Positionen zur politischen Ökonomie teilen und die mir auch nicht zustimmen würden, wie eine vernünftige Gesellschaft einzurichten wäre. Sie stimmen aber mit mir – oder mit uns, wir sind ja ein Kollektiv – darüber überein, was zu tun ist, um zumindest die Zerstörung der Vernunft oder den Sieg der Unvernunft tunlichst zu verhindern.
Sie sagten gerade, dass Sie einem orthodoxen Marx-Verständnis anhängen. Wie sind Sie dazu gekommen?
Ich bin Mitte 50. Meine politische Sozialisation fällt also in eine Zeit, bevor es die Grünen gab und bevor die Neuen Sozialen Bewegungen Gestalt angenommen haben, die heute tief in den Staatsapparat eingedrungen sind und die das mediale und mentale Klima fast schon diktatorisch bestimmten.
Ich komme aus einer von großen Stahlwerken geprägten Stadt im nördlichen Bayern. Dort gab es immer ein proletarisches Milieu, mit dem ich relativ früh in Kontakt kam. Für einen Jugendlichen, der eine relativ klar ausgeprägte Klassengesellschaft vor Augen hatte und der in einer (solchen) Stadt aufwuchs, die einerseits vom konservativen Establishment und anderseits von einer gewissen gewerkschaftlichen Gegenmacht geprägt war, war Marxismus die nächstliegende Variante kritischen Denkens und gesellschaftlichen Protestes. Ich bin in einem Dreieck aufgewachsen zwischen Linksgewerkschaftlern, DKP-orientierten Kreisen – Väter meiner Freunde waren teilweise in der illegalen KPD gewesen – und der Rock-interessierten Jugendkultur. Dann bin ich mit operaistischen Ansätzen in Berührung gekommen. Ich erkannte im Studium der blauen Bände eine gewisse Wichtigkeit, die Faszination dafür kam aber letztlich aus Italien. Die Marx-Lektüre, die Tronti und Negri vorgeschlagen hatten, und vor allen Dingen die Kombination dieses klassenzentrierten Marxismus mit der rebellischen Jugendkultur jener Jahre, markiert in gewisser Weise die konkrete Utopie, die mich bis heute antreibt. Also diese Verbindung von Kritischer Theorie, eingreifender Aktion im Betrieb oder im Viertel und einem gewissen rockkulturellen, vielleicht sogar romantischen praktischen Utopismus, der in diesen Bewegungen dann auch offenbar wurde. Die Aneignungsperspektive von Gesellschaft, die dort aufschien, hat mich zutiefst geprägt
Die Phänomene der letzten Jahre, Brexit, AfD und allen voran Trump, lassen sich als Symptome einer tiefgreifenden Krise des Status quo betrachten. Wie beurteilen Sie diese Krise und ihre Phänomene? Worin haben sie ihre Ursache? Was ist ihr Zusammenhang?
Dafür muss ich weiter ausholen. In den „Trente Glorieuses“, diesen glorreichen 30 Jahren zwischen 1945 und 1975, sah es so aus, als ob der Kapitalismus den Sozialismus tatsächlich in irgendeiner Form inkorporieren könnte. Ich würde den Umschlagspunkt, an dem diese Vorstellung endgültig platzte, Ende der 70er Jahre in der Zeit von Thatcher und Reagan verorten.
Das Kapital hatte sich so weit monopolisiert, dass es begann, die einstmals festgelegten Formen, vor allem der nationalen Regulation, zu sprengen. Gleichzeitig konnte sich das Kapital in den entwickelten Ländern in großen Teilen von der lebendigen Arbeit trennen. Dies hatte mit neuen Organisationsformen in der Produktion zu tun und begann Anfang der 70er Jahre. Die Digitalisierung hat dem Kapital ganz ungeahnte Möglichkeiten eröffnet, was Transport, Kontrolle, multinationale Vernetzung, und Bürokratie angeht.
Darauf ist bislang kaum reagiert worden. Wir haben auch in der Bahamas lange gebraucht, um uns des epochalen Charakters dieser Veränderungen klar zu werden. Das ist Einem erst in den letzten Jahren aufgrund der angesprochenen Krisenphänomene wirklich vor die Augen getreten.
Wir sind jetzt an einem Punkt, an dem dieses Rezept – Deregulation und Überschwemmung mit billigen Waren – an seine Grenze stößt. Und zwar so, dass die politische Unterrepräsentation ehemals tragender Schichten des Systems – insbesondere der Reste der Arbeiterklasse – einen Tiefpunkt erreicht hat. Trotz aller Smartphones, Privatkanäle und Ähnlichem erscheint sie nicht mehr als hinnehmbar. Hierfür sind Trump und Brexit Symptome. Das könnte man als die Krise des Neoliberalismus bezeichnen – auch wenn ich diesen Begriff nicht verwenden möchte.
Es ist verständlich, dass die Menschen jetzt nicht die gescheiterten und auch als gescheitert empfundenen Utopien der Linken aufgreifen, sondern dass sie erst einmal darauf setzen, dass Zustände dieser ‘Trente Glorieuses’ wiederhergestellt werden. Das ist ein Anliegen, das so nahe liegt, dass ich beim besten Willen nicht verstehen kann, was daran von linker und linksradikaler Seite als so abstoßend empfunden und gar mit Faschismusvorwürfen belegt werden kann. Diese Sehnsucht ist sicherlich konservativ. Das ist jedoch kein Problem, solange die eigentliche Progression in die falsche Richtung geht. Die Fähigkeit innezuhalten, umzukehren, die Benjamin‘sche Notbremse zu ziehen, die halte ich für die momentan wichtigste gesellschaftliche Triebkraft.
Sie würden es nicht als Krise des Neoliberalismus bezeichnen. Was wäre ein passenderer Begriff dafür?
Ich verwende den Begriff des Neoliberalismus ungern, weil er so klingt, als ob das darunter Bezeichnete eine ideologische Operation wäre, die auch jederzeit wieder auf dieser ideologischen Ebene zurückgedreht werden könnte. Mir fehlt dabei die Verbindung zu den tatsächlichen Veränderungen in den Produktions- und Reproduktionsverhältnissen des Kapitals. Insofern ist mir dieser Begriff immer zu appellativ, zu moralisch und zu unmaterialistisch. Ich würde den Begriff des postmodernen Kapitalismus vorziehen.
Sie nennen das Regime, das sich innerhalb der letzten vierzig Jahre, spätestens seit Reagan und Thatcher politisch manifestiert hat, postmodernen Kapitalismus. Zeichnet sich ein Umbruch dieses Regimes ab?
Ich glaube, es wird so nicht weitergehen können. Einfach weil die gesellschaftliche Zustimmung immer geringer wird. Das heißt, dass selbst für die Akteure und Teilnehmer dieses postmodernen Kapitalismus die Lebensverhältnisse immer schwieriger werden. Auch würde ich als Krisenphänomen deuten, dass immer mehr Faschisten am Werk gesehen werden, wo keine sind, und dass es immer leichter ist, unter Faschismusverdacht zu geraten, wenn man diese postmoderne, individualisierte Abstiegsrutschbahn thematisiert und versucht, Gegenentwürfe zu benennen. In dem Maße, in dem Bewegungen auftreten, die die Altregulation, wie sie vor dem postmodernen Kapitalismus gegolten hat, wieder fordern, gerät dieses Milieu unter Druck.
Das ist, was ich als die momentane Krise bezeichnen würde. Die linke Aufgabe wäre, diese Krise möglichst zu vertiefen, zu verschärfen und voranzutreiben.
Äußert sich in der Unzufriedenheit der Wunsch nach einem keynesianischen Wohlfahrtsstaat?
Ja. Ich denke letztendlich war der Sieg der Arbeiterbewegung nicht, dass sie den Sozialismus gebracht hat, sondern den Sozialismus in den Kapitalismus integriert hat. Ich denke, dass eine radikalisierte Sozialdemokratie momentan die besten Karten hätte, die daraus resultierten Unzufriedenheiten aufzufangen. Das ist der historische Punkt, an dem wir stehen, an dem jedes revolutionäre Versprechen sich entweder als Horror oder als Schaumschlägerei erwiesen hat. Das heißt, wenn wir es denn je wieder formulieren wollen, dann müssen wir es tatsächlich mit Taten belegen und zwar mit Taten, die dazu führen, dass diejenigen, die die Linke spätestens in den 70er Jahren verlassen haben, auch tatsächlich wieder Vertrauen fassen können.
Sie sprechen vom Sieg der Arbeiterbewegung. Wann und wo sehen Sie ihn? Welche Folgen hatte er?
Er war natürlich kein Sieg in dem Sinne, dass er tatsächlich eine klassenlose Gesellschaft hervorgebracht hätte. Sondern einer in dem Sinne, dass die Klassenzugehörigkeit in der Phase ab 1945 eine relativ geringe Rolle gespielt hat. Es gab eine hohe Aufwärtsmobilität. Dass sich die Arbeiterbewegung in diesem „Sieg“ selbst abgeschafft hat, das steckt in der Natur der Sache. Ich würde den keynesianischen Wohlfahrtsstaat als ein Resultat dessen betrachten.
Welche Einflussfaktoren haben zu dieser Integration der Arbeiterbewegung in den Wohlfahrtsstaat geführt?
Der Zweite Weltkrieg hat einen gewissen gesellschaftlichen Spielraum eröffnet. Die damaligen Produktions-, Transport- und auch logistischen Prozesse verlangten nach einer riesigen Menge Arbeit. Das brachte natürlich die Arbeiterklasse in eine sehr gute Verhandlungsposition. Das Kapital war unfähig, die Ansprüche derer, auf die es angewiesen war, abzuweisen. Im Nachhinein zeigt das, dass die Arbeiterklasse da nicht hineingewachsen ist, sondern, dass dies für sie die Alternative war, die deutlich vielversprechender erschien als die sozialistische Revolution. Mit zunächst einmal – in den ersten dreißig Jahren – relativ ähnlichen Resultaten.
Durch die technologischen Veränderungen der 70er Jahre hat das Kapital nun genau diese Fähigkeit erworben, die Ansprüche der Arbeiterklasse zurückweisen zu können.
Diese technologischen Neuerungen kamen passend. In der Krise der 70er Jahre wurde der klassische Wohlfahrtsstaat eine derartige Fessel für das Kapital, dass die ‘radikale Axt’ Thatcher herausgeholt wurde. Um das Risiko einer totalen Selbstzerstörung wurde die komplette Deindustrialisierung einer Nation vollzogen. Das Kapital wurde an andere Produktionsstandorte verlagert. Die Autoindustrie ging vor die Hunde, ebenso die Kunststoffindustrie und selbst die Textilindustrie. Nun konnte das Kapital den Arbeitern sagen: „Wir verzichten auf euch“. In England wurde das ganz deutlich. Es wurde einfach auf die gesamte Arbeiterklasse der Nation verzichtet. Diese Fähigkeit hätte das Kapital 1945 nicht besessen.
Sehen Sie im Moment einen ähnlichen Prozess am Werk?
Schwierig zu sagen. Ich vermute, dass das Surplus-Gefälle, welches das Kapital die letzten vierzig Jahre ausgenutzt hat, schrumpft. Die stetig sinkenden Zinsen sind ein Indikator dafür, dass die Erleichterung, die das Kapital durch den Rückzug aus Westeuropa und Nordamerika erfahren hat, nicht mehr so groß ist wie sie es einst war.
Wohin es geht, kann ich nicht sagen, aber das gehört zu den Krisen, die wir erleben.
Wie kann die momentane Krise politisch von einer Linken genutzt werden?
Die ganz einfache, und wie alle einfachen Antworten, utopisch klingende Antwort: Zu nutzen wäre die Krise von einer sozialistischen, säkularen und pro-westlichen Partei.
Das wäre das, was ich mir in meinem Leben noch zu sehen erhoffe. In gewisser Weise eine innere Einkehr. Eine Erinnerung dessen, was im 19. Jahrhundert progressive Kräfte in der Gesellschaft ausgemacht hat. Ich hoffe, dass wir dies für das 21. Jahrhundert reformulieren können. Das sollte gar nicht schwer sein. Dass sich das Paktieren mit dem Islamismus völlig ausschließt, liegt auf der Hand, wenn man auch nur ein bisschen human eingestellt ist. Dass die Ausschließung weiter Teile der Gesellschaft von den Möglichkeiten, die sie objektiv bietet, ein intolerabler Fakt ist, sollte ebenso auf der Hand liegen. Und dass das Zerschlagen von Zivilität und bürgerlicher Gesellschaft nur dann statthaft ist, wenn man eine bessere Alternative dazu zu bieten hat, eigentlich auch. Weil die bürgerliche Gesellschaft – auch nach Marx – die Basis für den Verein freier Menschen ist. Hierzu zählen: der Gewaltverzicht in der Öffentlichkeit und die Gleichstellung aller. Also eine gewisse Kombination von Freiheit und Sicherheit. Letztendlich wäre die klassenlose Gesellschaft die verantwortungsvolle Freiheit in absoluter Sicherheit. Das ist eine sehr konservativ anmaßende Sicht der Dinge, die sich aber für mich erschließt.
Sie sprachen von der Reformulierung der Perspektive des 19. Jahrhunderts. Was wäre aus Ihrer Sicht nötig, diese Perspektive wiederzugewinnen?
Ich hoffe auf ein kollektives Aha-Erlebnis der Linken. Die Loyalität darf nicht mehr auf diesen postmodernen Kapitalismus und seinen subsidiären Sozialstaat ausgerichtet werden. Sie muss sich wieder an denen orientieren, die dabei den Kürzeren ziehen, und das ist die Mehrheit der Gesellschaft. Man muss wieder dazu übergehen, die tatsächlichen Bedürfnisse – die einen anschreien – zu sehen, ernst zu nehmen und versuchen, an diesen Bedürfnissen orientierte politische Initiativen zu entwickeln. Der Vorwurf, der vielleicht bei dem was ich sage, aufkommen könnte: Das sei ja Sozialdemokratie. In gewisser Weise stimmt das auch. Ich schäme mich dessen in keiner Weise, denn der große Unterschied ist: Die sozialdemokratische Idee des friedlichen Hinüberwachsens in den Sozialismus und die Vertauschung des Sozialismus mit dem sozialen Staat – die ja in der Sozialdemokratie schon seit Lasalles’ Zeiten angelegt war – hat sich historisch bereits erledigt. Eine militante Sozialdemokratie widerspricht der heutigen Staatsräson so zutiefst, dass das Beharren auf sozialdemokratischen Forderungen fast schon automatisch in gewisser Weise einen revolutionären Gehalt bekommen wird.
Gemessen an der Entwicklung, die die Sozialdemokratie in ihrer Geschichte durchgemacht hat: Welche Forderungen der Sozialdemokratie meinen Sie?
Ich meinte es ganz bewusst unspezifisch. Das lässt sich keiner Organisation zuordnen. Es ist das, was den Grundstrom, auf dem das ideologische Gebäude der Sozialdemokratie aufsitzt, ausmacht: Beharren auf Koedukation, auf einem säkularen, friedlichem, öffentlichen Raum, auf einer Zurückdrängung unmittelbarer Gewalt aus diesem öffentlichen Raum, ein Beharren darauf, dass Existenznot kein Lebensmodus ist. Letztendlich also würde das ganz konkrete Dinge wie sozialen Wohnungsbau fassen. Regulation des Wohnungsmarktes und natürlich auch eine Stärkung der Arbeitnehmer in jeder Hinsicht in den verbliebenen Produktionsprozessen. Dass das natürlich im Dienstleistungssegment, das unsere Gesellschaften kennzeichnet, sehr schwierig zu realisieren sein dürfte, darüber mache ich mir keine Illusionen.
Es gibt keine Forderungen eines August Bebel, Karl Kautsky oder Ähnlichen, die wieder aufzugreifen wären. Stattdessen müssen wir diesen Impuls aufnehmen, der den Ottonormalarbeiter und die Ottonormalarbeiterin dazu getrieben hat, sozialdemokratisch zu werden.
Inwiefern verfehlt es die Linke im Moment, diesen Impuls zu adressieren?
Zum einen müsste man wahrscheinlich die Szeneorientierung vollkommen abstreifen. Zum andern müsste man begreifen, worin die Attraktivität der AfD liegt, die doch auf der sozialen Agenda für Arbeiter und Arbeitslose nicht viel zu bieten hat.
Sie liegt meiner Meinung nach darin, dass sie zumindest das, was sozialdemokratisch eigentlich zu verteidigen wäre, nämlich Freiheit und Sicherheit als Bedingung von Allem ansieht und proklamiert. Und die Strategie, die für die Linke daraus resultieren würde, wäre, diesen sympathisch konservativen Impuls aufzunehmen und ihn mit einem entsprechenden sozialen Programm aufzuladen. Dann besiegt man die AfD.
Die Verteidigung von Freiheit und Sicherheit im öffentlichen Raum sind auch klassisch liberale Forderungen. Was müsste passieren diese in – wie Sie es nannten – militant-sozialdemokratische Forderungen umzuwandeln?
Es ist wichtig intransigent zu bleiben. Das einfach fordern, egal welche Signale der Staat sendet.
Dass es ‘klassisch liberale Forderungen’ seien, damit bin ich nur bedingt einverstanden. Ich beharre extra auf dieser Kombination von Freiheit und Sicherheit. Weil der Liberalismus natürlich eins nie wollte: Regulation, die für die soziale Sicherheit notwendig ist. In gewisser Weise wollte er auch die Regulation, die für die öffentliche Sicherheit notwendig ist, nicht so recht. Insofern sind das klassisch bürgerliche Forderungen, nicht klassisch liberale. Das Programm, das ich entwerfe, wäre nicht besonders liberal, sondern will eher auf eine vernünftig gesteuerte Regulation hinaus. Und der Liberale fürchtet ja nichts mehr, als reguliert zu werden.
In einem Artikel schreiben Sie, dass die Linke vor nunmehr vierzig Jahren einen Perspektivwechsel vollzogen habe: weg von der Klasse, hin zu gesellschaftlichen Minderheiten. War dieser Abschied vom Proletariat ein Fehler der Linken? Wie wären die Probleme des Proletariats von der Linken zu adressieren? Worin müsste sie sich darin von der Rechten unterscheiden?
Das Proletariat wurde vom Kapital verabschiedet, das muss man erst einmal festhalten. Insofern hätte es wohl nichts außer Revolution geben können, was die Linke dagegen hätte tun können. Meiner Meinung nach hätte die Linke – wofür es hoffentlich noch nicht zu spät ist – die Loyalität für die Verlierer dieses Prozesses behalten müssen und dürfte sie nicht einfach, wie das heutzutage passiert, als Spießer verabschieden. Das hätte natürlich geheißen, die historische Niederlage, die das Proletariat – oder wenn man so möchte: die lebendige Arbeit – erlitten hat, mitzumachen.
Man müsste also wieder versuchen, politische Bündnisse zu schmieden und eine kollektive Perspektive zu entwerfen, z.B. beim Wohnungskampf. Hier wäre ein massiver Lobbyismus für sozialen Wohnungsbau, Rückkauf von Wohnungen und eine restriktiv-regulative Mietpolitik angezeigt. Letzten Endes wäre, was ich utopisch hoffen würde, eine Spaltung der Linkspartei nötig. In der Hoffnung, dass man die Reste des alten Antiimperialismus abstreifen kann, um sie tatsächlich auf die soziale Frage festzunageln. Ich wüsste keine andere Art im Rahmen des immer noch vorherrschenden parlamentarischen Systems politisch Einfluss zu nehmen, als in Form einer Partei. Ich möchte eine kollektive Perspektive haben und der muss eine Organisation entsprechen, die auch so allgemein ist, dass ihr jeder beitreten kann, und die Perspektiven für die Allgemeinheit formuliert.
Wie müsste diese Partei beschaffen sein, um diese Allgemeinheit der Bedürfnisse adressieren und dann auch als kollektiv-gesellschaftliche Kraft wirksam werden zu können?
Sie müsste zum einen die Bindung zum postmodernen Milieu aufgeben. Zum anderen müsste eine solche Partei versuchen, in einem internen Prozess den ganzen Ballast einer missglückten linken Geschichte der letzten 100 Jahre abzuwerfen. Das heißt ganz konkret, dass Verschwörungsdenken, Russophilie, Islamgesundbeterei, Wissenschaftsfeindlichkeit, Vernunftfeindlichkeit und antiwestliches Denken aufgegeben werden müssen, zugunsten einer klaren Perspektive eines besseren Lebens für ganz viele. Das ist nicht sehr utopisch und hat auch keinen weltrevolutionären Glamour. Von der Überzeugung, dass irgendwie zumindest die trikontinentalen Massen hinter einem stünden, muss man sich lösen. Das ist eine harte Arbeit, die ich vorschlage, aber eine, die völlig unverzichtbar ist – gerade, wenn man diese ganzen irrsinnigen Wege vermeiden will, die die Linke beschritten hat, weil sie so unzufrieden war mit dem westlichen Proletariat, dem mehr Lohn und billige Wohnungen lieber waren als die bolschewistische Revolution – was man ihm im Nachhinein in keiner Weise verdenken kann. Man muss zu einem ganz neuen Realismus und zu einer bedürfnis- und vernunftorientierten Politik gelangen. Eine, die nicht die letzte Schlacht ausruft, sondern die nächste.
Was müsste an diesem 100-jährigem Ballast aus Scheitern und Tradition durchgearbeitet werden? Welche geschichtlichen Trümmer müssen abgetragen werden, bevor man diese Perspektive wiedererlangen könnte?
Das kann ich Ihnen in einer einfachen Formel beantworten: Der Gedanke, dass eine Revolutionierung ohne Zivilisierung möglich ist, muss aus den Köpfen raus. Zivilisierung ist die Voraussetzung für jede Revolution, die ihren Namen verdient. Das würde das Auskehren sämtlicher Vorstellungen bedeuten, wie rückständige, archaische und primitive Verhältnisse besonders zur Revolution beitrügen – Marx hatte ja selber schon mit diesem Unfug begonnen, mit dem russischen Dorf beispielsweise. Man sollte zwar kapitalismusfeindlich sein, aber deswegen nicht auf kapitalfremde Lebens- und Ideologieformen rekurrieren. Das würde vor allen Dingen die Rücknahme der Losung bedeuten: „Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker der Welt vereinigt euch!“ Der letzte Passus ist ersatzlos zu streichen, denn die Völker dürfen auf keinen Fall Subjekte sein und die Tatsache, dass sie möglicherweise unterdrückt werden, qualifiziert sie noch nicht zu Vorboten des Sozialismus – ganz im Gegenteil. Was tatsächlich eine Losung wäre: möglichst zivile Verhältnisse für alle auf dieser Welt. Das ist die Voraussetzung für jede Revolution. Wenn man diese Formel zugrunde legt, ist klar, dass der Antiimperialismus in Bausch und Bogen auf den Misthaufen der Geschichte gehört. Man muss auch von der Vorstellung abrücken, dass voraufklärerische Denkformen für uns in irgendeiner Form vertretbar und deren Vertreter für uns Ansprechpartner sind. Kulturrelativismus, Antiimperialismus und das Eindringen irrationaler Ideologie in die Linke, im Zuge des Strukturalismus und Poststrukturalismus – das muss weg.
Sie sprachen von dem Subjekt der gesellschaftlichen Umwälzung und sagten: Der letzte Passus über die Völker müsse gestrichen werden. Wäre das Subjekt für Sie also das Proletariat?
Das wäre es gewesen. Insofern natürlich, als mit Proletariat ein Begriff gemeint ist, der ursprünglich durch das Ausgeschlossensein von der Kontrolle über die Produktion bestimmt war. Dass sich daraus wieder etwas wie eine Klasse bildet, das ist mir zu utopisch. Die ist zum einen aufgegangen im sozialdemokratischen Experiment und zum anderen entsorgt worden durch das postmoderne Experiment. Die Trümmer, die wir vorfinden, werden sich zu einem Subjekt so schnell nicht zusammenleimen lassen und vielleicht ist das auch gar nicht notwendig, wenn man nicht fragt welches Subjekt, sondern welche Bedürfnisse man adressieren soll. Wenn Bedürfnisse von einer radikalen Linken vernünftig adressiert werden, dann werden wir sehen, inwiefern sich Menschen darin wiederfinden und das für ein vernünftiges Projekt halten. Für ein Projekt, das ihnen tatsächliche Verbesserungen in Aussicht stellt. Insofern würde ich das als „work in progress“ begreifen. Der erste Schritt muss sein, dass die Linke sich radikal verändert, bevor sie auf das Subjekt schaut. Das wird dann schon zu ihr kommen – hoffe ich.
Das Bedürfnis nach materiellen Verbesserungen, also Erziehung, Wohnen, Arbeiten, Gesundheit, Energie etc., wird von der Linkspartei adressiert. Was wäre der Unterschied zu dem Projekt, das Ihnen vorschwebt?
Dass man es ernst meint. Das heißt z.B., dass eine Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten komplett ausgeschlossen ist. Auch heißt es, dass man schon auf kommunaler Ebene tatsächlich intransigent arbeitet. Dass es also nicht nur ein eherner Spruch bleibt: Das Hartz-IV-Regime abzuschaffen, sondern dass tatsächlich praktische Schritte dahin unternommen werden und dass mit niemandem koaliert und mit niemandem paktiert wird, der einem nicht das als Mindestmaß zusagt.
Sie hoffen, das Subjekt werde schon zur Linken kommen, wenn die Bedürfnisse angesprochen werden. In welcher Weise würde das Subjekt auftreten und in welcher Weise würde es Einfluss ausüben?
Erst einmal wird es unzufrieden auftreten. Zweitens wird es konservativ auftreten. Und zum Dritten wird man sich mit ihm ins Benehmen setzen müssen, um einstmals erzielte historische Fortschritte wiederherzustellen.
Wie zum Beispiel?
Freie öffentliche Erziehung, geregelter Wohnungsbau, Zurückdrängung jeglicher vernunftfeindlicher Ideologie aus dem öffentlichen Raum, ein ordentlicher Mindestlohn, der flächendeckend gilt, ohne jede Ausnahme. Ich erwarte die Verbesserung der Menschheit nicht durch Moral, sondern dadurch, dass Menschen keine Angst mehr haben müssen. Erst dort, wo keine Angst herrscht, kann über Entfaltung gesprochen werden. Ich kann nur zur Demut raten. Nach den 100 Jahren, die hinter uns liegen und vor allen Dingen den letzten 40, geht es darum, die Restbestände von Zivilität zu verteidigen und diese Zivilität so zu gestalten, dass sie ihren Namen auch verdient. Dass nämlich jeder civis – jeder Bürger – an ihr teilhaben darf. Und das ist schon eine so riesige Aufgabe und eine derartige Umkehrung aller Signale der letzten 40 Jahre, dass wir damit sicherlich mehr als genug zu tun haben werden. Und wenn wir damit ordentlich zu tun haben, dann können wir auch über Geschichtsphilosophie sprechen. Davon würde ich in der jetzigen Lage dringend abraten.
Welche Bedeutung hat es für uns, dass in der Geschichte Bedürfnisse ganz materiell und vernünftig von der Sozialdemokratie adressiert wurden, die Massen aber letztlich doch den faschistischen Parteien folgten?
Der Sieg des Faschismus in manchen Ländern hat eher damit zu tun, dass es ihm gelungen ist, die soziale Forderung mit einem gewissen kollektiven Narzissmus zu kombinieren. Eine Lösung, die einer sozialistischen Partei niemals offensteht. Ich glaube, dass ein Sieg einer faschistischen Partei immer dann möglich ist, wenn die Massen ahnen, dass die sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien schwach sind und es nicht ganz ernst meinen. Was das für heute heißen mag, wäre tatsächlich, dass jede Stimulanz dieses Narzissmus möglichst schon im Vorfeld aus der politischen Propaganda verbannt werden muss. Ich glaube aber, dass es aufgrund der historischen Erfahrung mit dem Faschismus wenig Menschen in Westeuropa und Nordamerika gibt, die dieses Experiment wiederholen wollen. Der Faschismus hat seine Versprechen genauso wenig eingelöst, wie es die Oktoberrevolution konnte. Insofern hat möglicherweise das Leben in einer postideologischen Gesellschaft – wie man sie immer behauptet – auch Vorteile. In der Hinsicht: Ich glaube nicht, dass wir vor dem Problem so nochmal stehen werden.
Leben wir denn Ihrer Meinung nach in einer postideologischen Gesellschaft?
Einerseits leben wir in einer total durchideologisierten Gesellschaft, andererseits wiederum in einer postideologischen Gesellschaft: Die Werte der Gesellschaft werden als Maximen aufgestellt – aber keiner glaubt mehr daran. Postideologisch ist die Gesellschaft als völlig fragmentierte und individualisierte in gewissem Sinne durchaus. Weil Ideologie auch immer ein Abdruck dessen ist, dass das einzelne Individuum und das Ich sich mit einem größeren Kollektiv geistig verschmelzen möchte. In gewisser Weise zu einem Größen-Ich übergeht. Und ich glaube diesbezüglich sind wir im Zeitalter des Narzissmus soweit, dass mittlerweile jeder sein eigenes Größen-Ich ist. Ideologien sind austauschbar geworden. Insofern kann man von postideologisch sprechen, ohne dies nur mit positiven Vorzeichen zu versehen.
Wäre denn eine gesellschaftlich-grundlegende, emanzipatorische Umwälzung möglich, ohne Ideologie?
Sollte sie (lacht). Die Umwälzung würde darin bestehen, dass Menschen es nicht mehr nötig haben, sich ideologisch einen Reim auf die Verhältnisse zu machen, sondern, dass endlich wahr würde, was die Aufklärung anstrebte: dass die Menschen nüchtern ihre Verhältnisse betrachten und vernünftig regulieren. Das wäre meine Hoffnung: eine Revolution ohne Ideologie. Das muss sogar sein. Sie sollte aus Einsicht erfolgen, bei klarem Verstand und ungetrübten Auges. Und das verträgt sich nicht mit Ideologie. | P