AM 25.06.2012 HAT Platypus in Frankfurt die Podiumsdiskussion Reform, Revolution, Widerstand als Teil einer Veranstaltungsreihe organisiert, die den gegenwärtigen Zustand linker Politik in den Blick nimmt. Thematisch ähnliche Panels wurden ebenfalls 2007 in New York und 2012 in Thessaloniki durchgeführt. An dieser Veranstaltung nahmen Thomas Seibert von der Interventionistischen Linken (IL), Norbert Trenkle von Krisis, Daniel Loick von der Goetheuni Frankfurt und Janine Wissler von DIE LINKE/Marx21 teil; Jerzy Sobotta moderierte. Es folgt eine editierte Transkription der Veranstaltung (eine englische Version erschien in der Platypus Review Nr. 55).
Thomas Seibert: Dass die Linke historisch am Tiefpunkt ist, teile ich nicht. Meiner Einschätzung nach gab es einen Tiefpunkt Anfang der 90er Jahre, und das war eine Zeit, in der man tatsächlich depressiv werden konnte, weil sich damals auch die letzten von der Linken distanzierten. Heute würde ich das eigentlich nicht mehr so sehen, und schon gar nicht seit 2011, also seit der Rückkehr einer Aktionsform, die man eigentlich für historisch überholt geglaubt hatte, nämlich die klassische Form des Aufstands als die Zusammenkunft der Leute auf dem größten Platz der Stadt: Sie bleiben dort und verlangen den Sturz der Regierung.
Ich möchte mit einer kurzen Bestimmung anfangen: Widerstand ist Renitenz und Revolte. Ich würde Widerstand tatsächlich im Alltagsleben verorten: bei ganz kleinen Sachen wie z.B. Sabotage am Arbeitsplatz, Krankfeiern oder Lächerlichmachen von Autoritäten. Ich würde ihn auch auf einer Ebene verorten, wo so etwas wie das Unbewusste des Politischen mit ins Spiel kommt: Leute werden zu Hunderttausenden krank; die psychischen Erkrankungen in Griechenland sind in den letzten Monaten um 40 Prozent gestiegen – darin schwingt auch ein Moment von Widerstand mit. Die entschiedenste Form von Widerstand in seiner klassischen Form, im Unterschied zu anderen Formen von Politik, war Tottenham. Die Riots in England würde ich für eine der Kernfiguren von Widerstand, wenn er kollektiv wird, halten – also Renitenz und Revolte.
Viele Leute, die Widerstand als ihre Konzeption des Politischen verstehen, tun das tatsächlich in offensiver Abkehr von Konzeptionen wie Reform und Revolution, und sie tun das deshalb, weil sie damit die Fragen loswerden, die in Reform und Revolution gestellt sind, nämlich: Sind wir einem Ganzen konfrontiert und muss dieses Ganze aufhören? Und wie schaffen wir es, dieses Ganze zum Aufhören zu bringen? Es gibt eine bestimmte Tradition, in der man diese Fragen einfach wegschiebt, da sie sich historisch erledigt hätten und historisch gescheitert wären – und wir machen eben Widerstand – Widerstand als ein spezifischer, nicht als einer, der sich gegen ein ganzes gesellschaftliches Verhältnis richtet. Prominent sind diese Ansätze seit den 60er Jahren und verstärkt noch einmal in den 80er/90er Jahren, z.B. bei Michel Foucault. Solche Ansätze fragen dann auch nicht mehr danach: Können wir das Ganze, z.B. den Kapitalismus, loswerden? Diese Frage wird als zu groß, unbeantwortbar oder theoretisch falsch gestellt verworfen, und stattdessen wird dieser spezifische Widerstand bevorzugt.
Ich halte diese Haltung prinzipiell für falsch, und zwar einfach aus einem logischen Grund: Wer das als Politik entwirft, mauert sich in der Position des Unterworfenen ein, weil man bei einer solchen Politik, die ein immer wieder neu zu vollziehender spezifischer Widerstand ist, damit unter der Hand sagt: „Im Prinzip bleibt Unterdrückung als Gesamtzusammenhang bestehen, und deshalb muss sie immer wieder neu angegriffen werden. Diese Unterdrückung im Ganzen kann eigentlich nicht beiseite geschafft werden, deswegen orientiere ich mich an strategischen Fragestellungen.”
Zu Reform und Revolution würde ich sagen: Keine spezifische Taktik und keine spezifische Aktionsform ist definitiv historisch gescheitert. Es ist sehr leichthändig zu sagen: Dieses oder Jenes ist doch gescheitert, das wissen wir sicher. Wenn jemand behauptet, Dieses oder Jenes sei gescheitert, dann möchte ich auch von ihm wissen, welche Form denn nicht gescheitert ist? Nehmen wir z.B. den Gang in den Staat: Wir können sagen, der reformistische Gang in den Staat ist definitiv gescheitert. Der Versuch, die Übernahme der Staatsmacht und darüber hinaus die Gesellschaft zu verändern, ist gescheitert. Aber dann ist auch der spontane Aufstand gescheitert und der Guerillakampf. Vieles ist schiefgegangen, aber ich würde mir grundsätzlich vorbehalten, dass ich die Veränderung dieser Gesellschaft, die Abschaffung der bestehenden Herrschafts- und Ausbeutungs-verhältnisse, auch die Abschaffung der bestehenden Subjektivierungsverhältnisse, für zentral halte. Dieses Ziel strebe ich mit der einfachen Formulierung an: By any means necessary – was immer unter bestimmten Bedingungen als sinnvoll erscheint, und da würde ich keines der historischen Mittel, die erfunden worden sind, definitiv ausschließen. Aber natürlich würde ich sagen, dass man bestimmte Sachen, so wie sie versucht worden sind, nicht mehr anwenden kann.
Ich glaube auch, dass man die Frage nach dem revolutionären Bruch differenziert stellen muss. Wir wissen, dass wir es mit einer Vielzahl unterschiedlicher Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse zu tun haben und nicht alle sind geeignet, mit dem Mittel des revolutionären Bruchs bearbeitet zu werden. Ich kann mir zum Beispiel keinen revolutionären Bruch in der Frage vorstellen: Sturz oder Nicht-Sturz des Patriarchats, denn das ist einfach ein anderer Prozess, der nicht nach dem Mittel des revolutionären Bruchs gedacht werden kann. Ich glaube aber, dass die Abschaffung des Kapitalismus letztendlich so etwas wie die Stilllegung der Kapitallogik definitiv einschließt, wie lange man auch immer die Übergangszeit denkt. Insofern glaube ich, dass wir heute ohne die Konzeption eines revolutionären Bruchs nicht auskommen.
Ich würde diese Frage nach Reform, Revolution und Widerstand konkretisieren: Mit dem Widerstand fängt immer alles an. Eine Linke muss immer einen positiven Bezug auf den aufbrechenden Widerstand haben, was nicht heißt, dass sie ihn prinzipiell gutheißt. Aber er ist der Rohstoff des Prozesses, an dem wir teilhaben.
Norbert Trenkle: Ich will die Notwendigkeit betonen, vom Begriff des Widerstands im Sinne von Mikropolitik weg zu kommen. Stattdessen sollte das Ganze in den Blick genommen werden. Die Frage ist allerdings: Mit welchen Kategorien? Ich denke, dass die Begriffe „Reform” und „Revolution” in starkem Maße von der kapitalistischen Logik infiziert sind. Sie sind eigentlich sogar ein Reflex des kapitalistischen Durchsetzungsprozesses und daher heute nicht mehr brauchbar für eine Frage der Transformation und Überwindung oder Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft. Sie haben einen Bedeutungswandel erfahren: „Reform” meint immer Abbau von sozialen Rechten, von Arbeitnehmerrechten, also eher eine Art Durchökonomisierung der Gesellschaft. Wenn von „Revolution” die Rede ist, ist allenfalls noch der Umsturz von irgendwelchen mehr oder weniger autoritären Regimen zur Durchsetzung freier Marktbeziehungen gemeint, vielleicht die Einführung von demokratischen Rechten.
Ich denke nicht, dass das einfach nur eine neoliberale Okkupation dieser Begriffe ist, sondern es hat damit zu tun, dass sie sehr eng verbunden sind mit dem historischen Prozess der bürgerlichen Gesellschaft; also, dass sie einem zielgerichteten historischen Basisprozess unterliegen: einer dauerhaften Expansion und einer permanenten Revolutionierung der Produktivkräfte – er treibt die Gesellschaft voran. Dieser Basisprozess ist seinerseits metaphysisch überhöht worden in geschichtsphilosophischen Kategorien, insbesondere in der Kategorie des Fortschritts. Die bürgerliche Gesellschaft wird im Marxismus schon als Durchgangsstadium zu einer höheren Gesellschaftsformation betrachtet, und die Konzepte von Reform und Revolution reihen sich in dieses Fortschrittskonzept ein und beziehen sich darauf. Beide – obwohl miteinander verfeindet – haben sehr ähnliche Bezugspunkte, sind sehr eng miteinander verwandt, indem sie sich beide imaginieren: „Wir haben einen historischen Prozess im Rücken, der gewissermaßen unsere Anliegen auch voran treibt.” Von dieser metaphysischen Konzeption von gesellschaftlicher Veränderung müssen wir uns befreien, weil sie infiziert ist mit der gewissermaßen realen Metaphysik der bürgerlichen Gesellschaft.
Realmetaphysik bedeutet, dass dem Handeln immer schon bewusstlose Prozesse vorausgesetzt sind. Also das, was Marx den Fetischismus nennt, eine Verdinglichung der gesellschaftlichen Beziehungen, die über die Menschen herrscht. Befreiung oder Emanzipation kann nur heißen, sich von diesem bewusstlosen Vorausgesetzten, das über die Menschen herrscht, obwohl es ihre eigenen gesellschaftlichen Beziehungen sind, zu befreien. D.h. aber auch, dass Emanzipation nicht in metaphysischen oder geschichtsphilosophischen Kategorien formuliert werden kann.
Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft hat ihre Grenzen erreicht. Das ist keine geschichtsteleologische Interpretation, sondern Ergebnis der Analyse der inneren Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft. Dieser Prozess weist in kein Jenseits, er weist nur darauf, dass die Grenzen erreicht sind. Das heißt, dass wir an einem Punkt sind, wo sich die Frage stellt: Was kommt danach? Und zwar in einer Situation, in der die gesamte Gesellschaft kapitalistisch durchformiert ist, und das heißt nicht nur in den objektivierten Strukturen, sondern das heißt natürlich auch in den Bewusstseinsstrukturen. Es gibt insofern keine Voraussetzungen von Emanzipation auf die wir uns beziehen können, sie müssen erst geschaffen werden. Es gibt also auch kein vorausgesetztes „Wir” auf das man sich in irgendeiner Weise beziehen könnte, irgendein vorausgesetztes Subjekt, sondern dieses „Wir” muss überhaupt erst entstehen in der Bewusstwerdung dieser Grenzen und des verdinglichten Prozesses, der an diese Grenzen heran geführt hat.
In diesem Bewusstwerden der Grenzen stellt sich die Frage nach bestimmten Taktiken und Aktionsformen natürlich neu. Es stellt sich auch immer wieder neu das Problem von Immanenz und Transzendenz, also welche immanenten Forderungen sind zu stellen und können trotzdem Schritte in eine Richtung der Überwindung dieser Gesellschaft sein. Nicht die Taktik, nicht die Aktionsform ist das Problem, sondern die Frage ist: Um was geht es eigentlich? Es geht zunächst mal negativ bestimmt um die Befreiung von diesem verdinglichten Prozess und zweitens um die Aneignung des stofflichen Reichtums. Die Krise der bürgerlichen Gesellschaft ist eine, die aus dem Paradoxon resultiert, dass sie zu reich ist. Die Gesellschaft ist zu reich für den Kapitalismus und genau das macht die Grenzen aus, an die sie stößt, das macht die Krise aus. Das heißt, es muss zunächst formuliert werden: Um was geht es? Zugriff auf den stofflichen Reichtum, Befreiung von dieser Form des Werts und erst dann können die Aktionsformen und Taktiken neu gefasst werden. Es ist also nicht einfach eine Frage von „die Dinge neu zu erfinden”, sondern sie in einen neuen Kontext zu stellen.
Daniel Loick: Ich fürchte, ich bin ein Vertreter genau dieser Foucaultianischen Mikropolitik der Post-68er „man macht so im Alltag rum”, die ihr beide so fürchterlich findet. Insofern werden die Unterschiede ganz deutlich. Wir können aus der feministischen Politik der 68er lernen. Wir befinden uns genau an dem Ort, an dem Helke Sander auf der Delegiertenkonferenz des SDS mit dem berühmten Tomatenwurf zur Entstehung der Zweiten Frauenbewegung beigetragen hat. Aus der Rede, die sie damals gehalten hat, können wir heute noch lernen. Darin wurde darauf hingewiesen, dass die Veränderung der ökonomischen Verhältnisse nicht auch schon die Veränderung der Geschlechterverhältnisse nach sich zieht. Das war nicht so zu verstehen, dass die Frauen im Privatleben entlastet werden sollten, weil man jetzt z.B. die Kindererziehung solidarischer und kollektiv macht, sondern es wurde damit ein neues Terrain der politischen Auseinandersetzung eröffnet. Die Fragen, die bis dahin als privat begriffen wurden, waren jetzt politisch. Damit geht einher, dass man sich gesellschaftliche Veränderung nicht mehr in denselben Formen vorstellte, also nicht mehr nach dem Muster Reform versus Revolution.
In der Konsequenz daraus möchte ich sieben Thesen zur Diskussion stellen:
Schluss mit dem Ökonomismus: Es gibt keinen Grund- oder Hauptwiderspruch, keine „Basis-Überbau-Relation”, „reelle Subsumption”, keine gesellschaftliche „Totalität”, keine Ableitbarkeit aus der Ökonomie, keine Reduzierbarkeit, keine Determination und auch kein „in letzter Instanz”. Kapitalismus, Sexismus, Rassismus, Neokolonialismus, Antisemitismus und viele andere Ausgrenzungs-, Ausbeutungs- und Unterdrückungsphänomene bilden ein Ensemble von Herrschaftsverhältnissen, die natürlich miteinander in Beziehung stehen, sich gegenseitig beeinflussen (teils begünstigen, teils einander widerstreben) und die sich in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich stark äußern, unter denen sich aber in keinem Fall, weder ein zeitliches noch ein logisches, Primat oder eine Priorität ableiten lässt.
Keine Trennung in „Politik-Politik” und „Alltagspolitik”: Reproduktions- und Fürsorgearbeit muss als solche sichtbar gemacht und gerecht verteilt werden. Der Alltag ist ein Terrain der politischen Auseinandersetzung. Das „Private” ist dem politischen Kampf nicht unter- und nicht nachgeordnet. Wenn gefordert wird, Hausarbeit, Kindererziehung und das solidarische Sich-Kümmern gerecht zu organisieren, so ist das nicht deshalb der Fall, um Frauen oder anderen Ausgeschlossenen einen gleichberechtigten Zugang zur Sphäre der „richtigen” Politik zu ermöglichen – sondern umgekehrt, um Männer und andere Privilegierte in die Sphäre der „richtigen” Politik zurück zu zwingen.
Keine Angst vor dem eigenen Erfolg: Der Fortschritt im Kampf gegen ein Herrschaftsverhältnis ist nicht dadurch entwertet, dass er nicht gleich mit Erfolgen im Kampf gegen alle Herrschaftsverhältnisse einhergeht. Die feministische Revolution von 1968 ist nicht dadurch weniger revolutionär, dass nicht gleich der Kapitalismus mit abgeschafft wurde. Natürlich können die eigenen Errungenschaften integriert und domestiziert werden, können eigene Befreiungen letztlich ambivalente oder ironische Wirkungen annehmen. Wer aber behauptet, die Post 68er Befreiung habe nicht „wirklich” etwas verändert oder sei gar einfach der Vorbote postfordistischer oder postmoderner Arbeitsverhältnisse gewesen, schreibt die Privilegierung und Priorisierung der Änderung einer so genannten Basis fort. Wem es immer nur „ums Ganze” geht, geht es immer nur um einen Teil: Um die Ökonomie, und nur eine bestimmte Ökonomie.
Kein „tabula rasa”, keine Katharsis: Wenn wir es mit einer Vielzahl relativ autonomer Herrschaftsverhältnisse zu tun haben, die miteinander nicht synchron sind, so ist die Idee eines einzigen Bruchs, nach dem alles „ganz anders” ist, unrealistisch und irreführend. Es gibt immer mehrere Frontstellungen, es gibt diverse Allianzen und Gegnerschaften. Der Begriff der Revolution muss entweder aufgegeben oder so umformuliert werden, dass er die heterogenen Zeitlichkeiten autonomer Emanzipationsbestrebungen anerkennen und fassen kann.
Es gibt keine Barrikaden mehr: Wir dürfen uns nicht alle Herrschaftsverhältnisse nach dem Muster und dem Vorbild des Kapitalismus vorstellen. Manche Herrschaftsverhältnisse bilden antagonistische äußere Gegensätze aus, manche sind intim und verlaufen durch unsere eigenen Körper (wie die Zweigeschlechtlichkeit), es gibt militante Kämpfer in bürgerlichen Institutionen und es gibt den Feind in meinem Bett. Manche Forderungen lassen sich in Rechte konvertieren, anderen erfordern die Änderung von Haltungen oder Aufmerksamkeiten, manche Kämpfe zielen auf Veränderung eines materiellen, andere auf die eines kulturellen oder symbolischen Regimes. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist ein Herrschaftsverhältnis, aber es ist weder durch Guillotine, noch durch Steuerpolitik lösbar – sondern nur durch ein Anerkennen der spezifischen, eben nicht in das Raster der Ökonomie pressbaren Bedürfnisse der Subalternen, also hier der Kinder, zu überwinden.
Schluss mit dem Bilderverbot: Es geht darum, neue Subjektivitäten und neue Beziehungen im Hier und Jetzt zu entwickeln und zu etablieren. Diese Formen, wie wir leben wollen, müssen ausprobiert, reflektiert, revidiert und publiziert werden. Es gibt keinen Grund, damit auf den Tag „der Revolution” zu warten. Wir können sofort beginnen.
Occupy your life: Das spannende und Mut machende an den globalen Protestbewegungen, deren Zeuginnen und Zeugen wir zurzeit weltweit werden, ist gerade das Ernstnehmen der spezifischen Ästhetik der Existenz, die im Engagement liegt. Von Anfang an, so scheint es zumindest, haben in der Occupy-Bewegung Diskussionen um die Organisation des Alltags eine große Rolle gespielt, und von Anfang an haben die Akteure die kulturelle Dimension des Protests nicht verdrängt, sondern affirmiert. In fast ausnahmslos allen Dokumenten zur Occupy-Bewegung wird die Erfahrung kollektiven Zusammenlebens selbst akzentuiert: Die Erfahrung des Zeltens, Diskutierens, des Versammelns, der damit verbundenen Emotionen und Affekte. Occupy verzichtet auf einen personifizierten Adressaten oder auf die Fiktion eines gesellschaftlichen Großsubjektes. Und dabei hat Occupy nebenbei gezeigt, dass Engagement nicht asketisch oder traurig sein muss, sondern dass es auch schon heute sehr viel zu gewinnen gibt, wenn wir gemeinsam ein neues, widerständiges Leben aufbauen.
Janine Wissler: Ich will vorwegschicken, dass ich das mit dem historischen Tiefpunkt, in dem sich die Linke befindet, auch nicht so sehe. Ich glaube, im Gegenteil, dass Widersprüchlichkeiten heute so groß, so grundlegend und so offensichtlich sind, dass Kapitalismuskritik heute viel besser anknüpfen könnte am gesellschaftlichen Bewusstsein, als es noch in Zeiten des Fordismus der Fall war; in Zeiten hoher Wachstumsraten, in Zeiten in denen ein Großteil der Gesellschaft in irgendeiner Form am Wachstum partizipieren konnte; als es auch ganz realistisch eine Verbesserung der Lebensqualität der Menschen gab. Darum glaube ich, dass heute die Widersprüche viel stärker auf der Hand liegen, und dass für viele Menschen doch sehr klar ist, dass sich die derzeitigen sozialen, wirtschaftlichen, auch gerade die ökonomischen Probleme überhaupt nicht lösen lassen werden, wenn man nicht Macht- und Eigentumsverhältnisse sehr grundlegend verändert.
Da ich gesagt habe, dass die Widersprüche sichtbarer werden für viele Menschen, heißt natürlich nicht im Umkehrschluss, dass jetzt sehr viele Menschen den Schluss ziehen, gegen das System zu kämpfen. Die Occupy- und Blockupy-Proteste, letztere mit 25.000 Beteiligten, sind eine tolle Entwicklung. Wir können auch nicht davon sprechen, dass es weltweit überhaupt keine Protestbewegungen gäbe. Doch natürlich sehe ich auch, dass gerade in Deutschland soziale Bewegungen wirklich große Schwierigkeiten haben.
In der Frage, was Widerstand bedeutet, schließe ich mich Thomas an: es gibt natürlich verschiedenste Formen von Widerstand – der kann sehr punktuell sein, der kann dauerhaft sein, der kann sehr individuell, sehr individualisiert sein, oder eben massenhaft stattfinden in Form von sozialen Bewegungen. Darum meine ich, dass es die Aufgabe der gesellschaftlichen Linken ist, diese Formen von Widerstand zu bestätigen, also sie auch ein stückweit vom Konkreten zum Allgemeinen zu bringen. Es sollte klar gemacht werden, dass es letztlich natürlich keinen Sinn macht, immer nur die Symptome eines kranken Systems zu bekämpfen. Doch wie kann man ein ganzes System in Frage stellen? Es funktioniert nicht, dass man Reformen und Verbesserungen schrittweise erkämpft, und dann zu einer besseren Gesellschaft kommt. Reformen sind auch zurücknehmbar und wir haben ja gerade in letzten Jahren erlebt, dass Errungenschaften, die es schon mal gab, zurückgenommen werden, und man merkt, dass das Ganze durchaus seine Grenzen hat.
In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben nicht Kämpfe für positive Reformen, sondern eigentlich Abwehrkämpfe im Vordergrund gestanden, die die Verschlechterung verhindern sollten. Es gab keine massenhaften Proteste, die über den Status Quo hinausgehende Forderungen stellten. Das sehen wir in der Hochschulpolitik, genauso wie in betrieblichen Fragen. Offensichtlich ist der Kampf um progressive Reformen in der Defensive und der Reformbegriff wurde völlig pervertiert. Wenn man heute an Reformen denkt, hat es überhaupt nichts mehr Positives an sich, man denkt eher an Verschlechterung.
Wenn wir allerdings über Reform und Revolutionen reden, kritisiere ich natürlich an Reformismus und reformistischen Parteien, dass sie sich überhaupt nicht die Frage stellen, welche Hemmnisse es eigentlich gibt für soziale Bewegungen, was Menschen eigentlich davon abhält, mit anderen gemeinsam selbst emanzipiert für ihre Interessen zu kämpfen. Das liegt wohl daran, dass im Reformismus einfach unglaublich stark das Prinzip dominiert, man mache Politik für Menschen, stellvertretend für Menschen. Der Gedanke von Selbstemanzipation, also dass Menschen sich selber in Kämpfen, in sozialen Bewegungen einbringen und selber Politik machen, ist überhaupt nicht verankert. Deswegen dominiert im gesellschaftlichen Bewusstsein die Vorstellung, dass man jemanden stellvertretend in die Regierungen und die Parlamente wählt, und sich selber gar nicht als Teil von Politik versteht. Was die Taktiken und die Strategien angeht, ist es entscheidend zu überlegen, wie man Ohnmacht und Vereinzelung bekämpfen kann.
Die Kritik am Ökonomismus finde ich völlig richtig. Nichtsdestoweniger ist es durchaus wichtig, zu diskutieren, in welchem Zusammenhang Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse zueinander stehen, und dass sie natürlich auch einander bedingen. Ich würde zustimmen, dass der Kampf gegen Rassismus und der Kampf gegen Frauenunterdrückung selbstverständlich eigenständige Kämpfe sind. Es wäre falsch, alles einfach nur alleine aus dem Klassenkampf abzuleiten. Dennoch denke ich, dass man an dieser Stelle überlegen muss, wo da Zusammenhänge aufzufinden sind. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, wie Frauen frei sein sollen in einer unfreien Gesellschaft und umgekehrt. Daher ist diese These ein bisschen absolut. Das Problem ist doch gerade, dass es natürlich, jetzt speziell im Fall der Rolle der Frau, in der kapitalistischen Gesellschaft einfach objektive Gründe gibt, warum es gesellschaftlich einen Sinn macht, dass Frauen nicht gleichberechtigt sind. Wenn man diesen ökonomischen Zweck auch beseitigt, dann ist doch einfach der objektive Grund dafür weg. Man muss überlegen, wie man den Kampf für die Gleichberechtigung von Frauen mit dem Kampf für eine bessere Gesellschaft verbindet. Die Geschichte hat auch gezeigt, dass gerade in den Zeiten, als es revolutionäre Bewegungen gab, auch die meisten Rechte für Frauen durchgesetzt werden konnten, z.B. 1918, als das Frauenwahlrecht durchgesetzt wurde. Das waren auch oft die Zeiten, zu denen es eben auch allgemein gesellschaftlichen Aufbruch und revolutionäre Situationen gab. Folglich muss man es miteinander diskutieren, ohne diese Nebenwiderspruchsdebatte aufzumachen, die auch, glaube ich, sehr schädlich ist.
TS: Bei Daniels Thesen habe ich mich gefühlt, als ob ich in eine Diskussion der 70er zurückgezwungen werde. Damals habe ich all die Sachen gesagt, die gerade Daniel gesagt hat, und sie waren immer der Ausgangspunkt für meine Politik. Der Punkt ist aber, wir sind in den 2012er Jahren, d.h. zwischenzeitlich sind viele Erfahrungen gemacht worden.
Es gab eine Zeit, da wurde Politik definiert als das, was die Partei gegen den Staat und gegen das Kapital macht, unter der Führung der Männer, und alles andere ist Teil des Privatlebens, bestenfalls Nebenwiderspruch und wird nach der Revolution geklärt Dagegen wurde dann dieses Begriffspaar Mikropolitik/Makropolitik eingeführt, in dem das ganze ausgeschlossene Feld als mikropolitisches Feld, als Feld der Widerstände eingeführt wurde. Doch in diesen Texten ist nicht die Rede davon, dass wir jetzt mit dem anderen aufhören und uns jetzt allein diesem Neuen widmen, sondern das Ausgeschlossene sollte als Teil des Politischen erkämpft werden. Die alten Fragen bleiben aber bestehen, und man ist nicht Ökonomist, wenn man das betont. Es gibt unterschiedliche Herrschaftsverhältnisse, die unterschiedliche Logiken haben. Natürlich ist der Kapitalismus nicht das Ganze der Herrschaftsverhältnisse. Aber es ist ein wesentliches (aber nicht das einzige) Herrschaftsverhältnis, das quer durch alle anderen geht. Wer das abstreitet, stellt es auf Dauer: wie eine linksliberale Position, die den Kapitalismus bestenfalls einhegen will.
Dagegen möchte ich ein altes „böses” leninistisches Begriffspaar einführen: nämlich Tradeunionismus vs. Politik. Unter Tradeunionismus versteht man das, was man so spontan im Alltagsleben an Problemen aufhäuft und dann artikuliert (z.B. gewerkschaftlichen Forderungen). Das sollte weg und das richtig Politische war das, was die Partei vorgab. Das ist von heute aus gesehen eine falsche Position. Nur gibt es aber daran ein Moment, in dem wir unsere Erfahrungen der letzten 30 Jahre wiederentdecken können: Die Spaltung Tradeunionismus vs. Politik bedeutete auch die Spaltung derer, die an ihren unmittelbaren Interessen kleben und nichts andres tun als dieses spezifische Leid, an dem sie aufbrechen, und den Widerstand zum Fokus zu machen, und nicht mehr tun. Man kann das jeder Gruppe vorwerfen, die irgendwo wegen eines spezifischen Unterdrückungsverhältnisses auftritt: wenn sie nur an ihm klebt, dann läuft da was schief. Lenin hat diesen Begriff für die Arbeiterbewegung seiner Zeit geprägt, aber es gibt einen Tradeunionismus der Frauen, der Jugendlichen, der Kranken und einen der Ökologie – das ist ein wirkliches Problem, und diesen Horizont gilt es zu überschreiten. Man muss den Schritt darüber hinaus vollziehen und sich als politisches Subjekt konstituieren. Ich glaube, dass diejenigen, die vor 30 Jahren gegen den SDS aufgebrochen sind, sich ihrerseits in einem ganz spezifischen eigenen Tradeunionismus verfilzt und verfangen haben. Das entwertet ihre Kämpfe nicht. Aber wir müssen uns doch die Frage stellen: Wieso konnte sich eine Generation befrieden lassen mit Kitas und mit veränderten Geschlechterverhältnissen (und die Geschlechterverhältnisse sind massiv verändert worden)? Es stellt sich die Frage nach dem politischen Subjekt, das im Namen aller kämpft.
NT: Den Vorwurf des Ökonomismus weise ich natürlich zurück. Hinter ihm steckt selber ein sehr verkürztes Verständnis von dem, was Kapitalismus ausmacht. Es ist ein Unterscheid, ob ich von einer kapitalistischen Gesellschaft spreche, die von der Wertlogik als Basisprozess getrieben wird oder ob ich sage: „Alles ist ökonomisch bestimmt”. Das ist etwas ganz anderes. Es gibt ein historisch-spezifisches Merkmal dieser Gesellschaft, das in diesem „Getriebensein” besteht; diesem Zwang zur Beschleunigung, diesem Zwang alles umzuwerfen und die Produktivkräfte ständig zu verändern und die gesamte Gesellschaft mit der kapitalistischen Beziehungsform zu durchdringen. Das ist keinenesfalls etwas nur ökomonisches, sondern betrifft die intimsten Beziehungen der Menschen, also die Art und Weise, wie sich Menschen zueinander verhalten. Wenn wir von Subjekten sprechen, die sich als Konkurrenzsubjekte begreifen und sich auch so verhalten müssen, dann sind das Menschen, die dazu gezwungen sind, die Welt und sich selber ständig zum Objekt zu machen. In der offensichtlichen Form ist das dort zu beobachten, wo ich mich tagtäglich verkaufen muss als Ware Arbeitskraft. Aber es geht weit darüber hinaus: Sich selbst und andere ständig zum Objekt zu machen und der Welt als einem objektiven Prozess, also als etwas objektiv Fremdem gegenüber zu stehen – das ist etwas, was spezifisch ist für die kapitalistische Gesellschaft und was auch alle anderen Herrschaftsformen prägt, die sie auch durchziehen. Es geht also nicht einfach darum, dass man von „ökonomischen Prozessen” spricht, sondern von etwas, was allen gesellschaftlichen Beziehungen vorausgesetzt ist als gesellschaftliche Form und insofern auch nicht greifbar, weil es in den Alltagsbeziehungen ständig und vor jedem Handeln wirkt. Das reflektiert sich auch in der Art und Weise, wie Menschen über die Gesellschaft denken. Zum Beispiel ist eine Form von Metaphysik die Konstruktion von Kollektivsubjekten wie „die Nation”, d.h. wenn ich mich mit einem Metasubjekt identifiziere, dem ich mich dann unterwerfe. Das hat im engeren Sinne natürlich nichts mit Ökonomie zu tun, sondern mit der Art und Weise wie ich mich zu dieser Gesellschaft verhalte.
In der „Pervertierung” des Reformbegriffs, den Janine angesprochen hat, drückt sich aus, dass sich der historische Prozess, der Reformen voran getrieben und der es ermöglicht hat, Spielräume innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu nutzen, erschöpft hat. Eine Verlagerung der kapitalistischen Akkumulationsdynamik an die Finanzmärkte hat stattgefunden, weil es eine Ausweichstrategie war, um diese zugrunde liegende Krise der kapitalistischen Gesellschaft für einige Jahrzehnte zu überspielen. Damit einher geht nicht nur, dass die Spielräume sich verengen, sondern auch dass die Kräfteverhältnisse sich in einer Art und Weise verschieben, dass das, was einmal Reform war d.h. soziale Rechte und Spielräume in Arbeitsbeziehungen zu erkämpfen, dass genau das nicht mehr funktioniert. Das steckt hinter dem, was als „Pervertierung” des Reformbegriffs gemeint ist.
DL: Ich bin natürlich auch für die Abschaffung des Kapitalismus – das nur so als Zugeständnis. Was ich aber problematisch finde, ist die Ableitung irgendeiner Priorität der ökonomischen Sphäre vor den anderen Herrschaftsverhältnissen, sei es zeitlicher oder logischer Art. Zumindest implizit habt ihr das alle drei schon gemacht. Die Eigenständigkeit der Kämpfe heißt, dass es mehrere autonome, sich überlappende und gegenseitig beeinflussende Sphären gibt, aber es gibt eben keine Prioritätensetzung. Man muss das ernst nehmen und kann nicht sagen: „die haben sich abspeisen lassen.” Die Abwertung von „Mikropolitik” verkennt aber die Dramatik dieser Herrschaftsverhältnisse und wie schwierig es ist, etwas im Kleinen zu verändern. Hast du schon einmal versucht dich selber zu verändern? Das ist das Allerschwierigste! Es ist eine Frage von extrem anstrengenden und aufreibenden, kollektiv geführten Kämpfen.
Foucault hat sich nicht geweigert die Frage nach dem Ganzen zu stellen. Er hat sie einfach anders beantwortet. Er hat sich gegen einen in Frankreich vorherrschenden Parteienmarxismus gewendet, der die Kategorie der gesellschaftlichen Totalität zu Grunde gelegt hat. Diese fand er falsch, weil er davon ausgegangen ist, dass es eine Heterogenität von Mikropolitiken gibt, die autonome und lokale Machtverhältnisse konstituieren und gegen die man sich auch lokal wenden muss. Das ist eine Frage der Analyse und nicht, ob man sich weigert bestimmte Sachen zu sehen. Die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Partei seiner Zeit ist ein Grund dafür, warum er eine bestimmte Neukonzeption von Politik vorgenommen hat.
Es gibt zwei große Gefahren für die Linke: Die Korruption und die Anpassung. Also im Sinne eines Marsches durch die Institutionen, in dem man sich verliert und seine eigenen Ideale verrät. Hierauf muss man aufpassen und Mechanismen dagegen entwickeln. Die zweite große Gefahr ist der Stalinismus. Das war der Punkt, gegen den Foucault sich gewendet hat. Wenn Thomas – nach all den Erfahrungen von Avantgardepolitik – sagt, „by any means necessary”, dann gehen bei mir alle Alarmglocken an! Der Politikbegriff selber muss doch kritisch reflektiert werden und da müssen doch die Erfahrungen, die man mit dem Stalinismus gemacht hat, als einer wichtigen Versuchung der Linken, auch eingehen in diese Reflexion. Dann muss man einige „means” auf jeden Fall ausschließen.
JW: Ich glaube, dass auch die Kämpfe um die minimalsten Verbesserungen (z.B. Kinderbetreuung) absolut legitim und notwendig sind. Die Frage ist, ob man dabei stehen bleibt. Diese Kämpfe sind Kämpfe um ganz unmittelbare Dinge, sogar notwendig, da sie sich mit den Grundvoraussetzungen befassen. Das Infragestellen der gesellschaftlichen Verhältnisse passiert meistens nicht bei den großen Fragen, sondern in Angelegenheiten ihres alltäglichen Lebens. Es geht nicht darum, ob man diese Kämpfe führt, sondern ob man bei diesen Kämpfen stehen bleibt, oder ob man sie auch als ein Teil eines Ganzen begreift.
In Rosa Luxemburgs „Sozialreform oder Revolution” wird deutlich, dass sie diese Widersprüche nicht aufmacht. Stattdessen entsteht im Kampf um Reformen überhaupt erst der Keim einer neuen Gesellschaft, und die Möglichkeit des Bewusstseins für eine andere Gesellschaft. Doch sie erklärt auch, warum es nicht reicht, alleine für Reformen zu kämpfen.
In der heutigen Gesellschaft sind die Machtstrukturen eben auch oft Eigentumsstrukturen, sie bedingen sich gegenseitig. Ich würde Daniel in diesem Punkt darum nicht zustimmen und nicht sagen, sie seien autonom und bestünden völlig unabhängig voneinander. Die Macht- und Eigentumsstrukturen gehören zusammen und man kann die Kämpfe auch nicht völlig losgelöst voneinander führen.
Q & A**
Welche Rolle spielt für euch Politik als eine Art mit Geschichte umzugehen, Dinge neu verstehen zu lernen, sodass das Objekt der Kritik verändert wird und auch unser eigenes Bewusstsein vom Objekt der Kritik?
TS: Ich glaube, dass das Politische eine eigene Dynamik hat, und man sich täuschen würde, wenn man glaubt, dass der politische Prozess alles neu ausrichten kann und nicht selber wiederum in systemische Zwänge eingebettet ist. Ich glaube, dass der politische Prozess das Unvorhersehbare, nicht Ableitbare, Unerwartete, Überraschende enthält, also plötzliche Öffnungen, mit denen keiner rechnet. Die politischen Überlegungen der Genossen in Kairo, wenige Monate oder vielleicht nur wenige Wochen vor dem Tahir waren in einem komplett anderen Horizont gestellt als nach dem Tahrir. Es gab eine Art Annahme einer Ewigkeit des Mubarak-Regimes, dass man sich im Wesentlichen innerhalb dieser von Mubarak bestimmten Welt einrichten müsse. Und dann kam Tahrir, und die noch immer marginale linke Position agiert in einem ganz anderen Horizont – das ist die Eigendynamik des Politischen. Insofern würde ich die erste Frage definitiv bejahen: Ja, das gibt es, und diese Eigendynamik des Politischen schließt tatsächlich ein, bei sich selbst anzusetzen. Ein Aspekt der Selbstveränderung – nicht der einzige, aber einer – ist die Erfahrung die man macht, wenn man an einem bestimmten Punkt in den Widerstand tritt.
In diesem Verhältnis von Mikro- und Makropolitik tritt dann die Frage auf: Gibt es die Option, durch Teilhabe an der Dynamik des politischen Prozesses etwas anderes zu werden, als nur ein Subjekt, das spezifische Nöte ausagiert? Das ist ein Gewinn, dass neben dem plötzlichen Umbruch der Lebensperspektiven für Millionen auch die Frage auftaucht: Welchen Umbruch des Lebenshorizonts gibt es in dem Augenblick, wo man vor dem Hintergrund bestimmter Erfahrungen beschließt, politisches Subjekt zu bleiben? Vor dem Hintergrund meiner eigenen Erfahrung kann ich sehr wohl sagen: Ein erheblicher Teil meiner Generation hat sich abspeisen lassen; was auch mit falschen Vorstellungen darüber zusammenhing, was es heißt in den Widerstand zu treten und warum Politik mehr ist als bloß Widerstand machen.
DL: Ich stimme Thomas zu und möchte ergänzen: Politik ist wichtig, aber man würde Politik falsch verstehen, wenn man denken würde: erst schließen sich Leute zusammen, um ein Ziel zu erreichen, und dann wählen sie die entsprechenden Mittel dafür und dann gucken sie, ob sie es geschafft oder nicht geschafft haben. Diese Vorstellung finde ich verkürzt, weil darin die spezifische Ästhetik der Existenz, die im Engagement liegt, verkürzt wird. Politik ist wichtig als ein Milieu von Kollektivität, als ein Gegenmilieu von Bildung, von radikalem Engagement und von bestimmten Alltagspraktiken, die eine bestimmte Gestalt angenommen haben.
Das Problem von den Grünen war doch nicht Tradeunionismus, nicht, dass sie sich auf ein Thema beschränkt haben oder dass sie zu viel Alltagspolitik gemacht haben, sondern ihr Problem war einfach Korruption. Sie haben sich anpassen lassen von einem Gesamtsystem.
NT: Ich denke auch, dass der Tradeunionismus-Vorwurf gegenüber den Grünen nicht wirklich hinhaut. Bei den Grünen, aber auch bei der Linken und anderen Parteien, die versuchen auf dem politischen Weg etwas zu verändern, kommen Sachzwänge oder strukturelle Zwänge ins Spiel, die dann tatsächlich auch nicht mehr beiseite gewischt werden können. Wenn eine Linke in Berlin antritt und das Sparprogramm durchzieht, wie sie es ja schon vor Jahren gemacht hat, dann hat das natürlich etwas damit zu tun, dass sie sich auf die Logik der Finanzierbarkeit einlassen muss, wenn sie in die Sphäre der Politik geht. Die Logik Finanzierbarkeit heißt eben, dass nur die Infrastruktur aufrechterhalten werden kann, die auch bezahlt wird. Das Geld muss dann irgendwo her kommen. Damit habe ich mich schon in alle Zwänge verstrickt, die kapitalistische Logik ausmachen. Und das gerade in einer Zeit, in der die Spielräume enger werden, weil eben die Verwertungsbewegung des Kapitals ins Stocken kommt. Bei den Grünen und den Linken hat man gesehen, dass das ein schmerzhafter Prozess ist. Es gibt immer wieder Leute, die das nicht mitmachen und dann früher oder später die Partei verlassen. Es bleiben dann die „Realos”, die auf der Seite der Systemzwänge stehen und diese exekutieren. So bildet sich dann eben auch eine politische Klasse heraus, die nichts anderes ist als Funktionär dieser Logik, also der Logik der Finanzierbarkeit und der Frage, wo das Geld hergenommen wird: aus der kapitalistischen Akkumulation.
Da sind also zwei Prozesse im Gange: zum einen der Tradeunionismus und zum anderen diese Strukturzwänge, über die man sich keine Illusionen machen darf. Das heißt eben auch, dass sie als solche denunziert werden müssen. Sie dürfen nicht verschleiert werden in dem Sinne, dass man das irgendwie reformieren könnte.
JW: Dennoch muss man sich ansehen, wie die soziale Zusammensetzung der Grünen war. Dort spielte von Anfang an die soziale Frage eine total untergeordnete Rolle. Ich denke natürlich auch, dass die Grünen ein stückweit Ausdruck eines Niedergangs einer Bewegung sind, und sich dann eben auf Koalitionen, Parlamente und Regierungen eingelassen haben – wirklich in dem Glauben, darin etwas verändern zu können. Ich stimme zu, dass hier die Sachzwanglogik hineinkommt. Die Grünen haben in der außerparlamentarischen Arbeit mehr erreicht für diese Gesellschaft, und haben das Bewusstsein der Menschen mehr verändert als in ihren Regierungsjahren. Wenn man in die Parlamente geht merkt man, wie klein die Spielräume für Veränderungen wirklich sind. Doch es gibt auch gute Gründe, warum es wichtig ist, dass es die LINKE als parlamentarische Kraft gibt. Wenn es die LINKE nicht gegeben hätte, oder wenn es keine linke Alternative gibt, ist es möglich, dass die Rechte leichter Erfolge feiern kann bei Wahlen. Doch die Frage ist: Mit welcher Zielsetzung macht man das, und mit welcher Erwartung, was man in Parlamenten erreichen kann. Der Wahlerfolg von SYRIZA in Griechenland lässt sich z.B. überhaupt nicht erklären, ohne die Massenbewegungen der letzten zwei Jahre im Blick zu behalten, als es siebzehn Generalstreiks gegeben hat. Es macht einfach einen Unterschied, ob man als Regierung auf Massenbewegungen setzen kann zur Durchsetzung von Reformen, oder ob man das nicht kann.
TS: Ich finde es eher richtig zu sagen: Gut, dass es SYRIZA nicht geschafft hat, denn möglicherweise hätte das Projekt einen Sieg nicht überstanden, weil es ganz früh unter Zwänge geraten wäre, die ein neuzusammengesetztes und experimentelles Projekt wie SYRIZA möglicherweise nicht ausgehalten hätte. Jetzt werden wir vielleicht eine komplexe Situation von dauernden Kämpfen und von dauerndem Druck von außen und einem möglichen Wahlerfolg von SYRIZA haben, die auch die Option auf Erfindung haben muss. Das heißt „by any means necessary.” Ich meine ja nicht, dass wir den Gulag wiedereinführen sollen, aber ich würde zum Beispiel nicht sagen, dass man auf Grund des Scheiterns aller reformistischen Projekte, das ja auch nur ein bedingtes Scheitern war, sagen kann, Reformismus dürfte es grundsätzlich nicht geben. Mir kommt es auf diese Haltung an: Alle linken Politikformen – die neuen sozialen Bewegungen, die alten sozialen Bewegungen, die Sozialdemokratie, der Marxismus-Leninismus, der Anarchismus – haben ihren Teil am Scheitern zu tragen und alle haben ihre spezifischen Momente, auf die ich nicht verzichten wollte. Und es können Konstellationen eintreten, die neu sind: SYRIZA ist eine solche neue Konstellation. SYRIZA ist von seiner politischen Plattform her ein linkssozialdemokratisches Projekt, an dem Postmaoisten, Posttrotzkisten, durchgeknallte Anarchos und aufrechte Linkssozialdemokraten in einer Formation teilnehmen. Das hat es historisch noch nicht gegeben und das ist außerordentlich. Mich stimmt es erwartungsfroh.
Muss der Streit, ob die Linke nun tot ist, oder ob man optimistisch ist, nicht aufgelöst werden in die Frage: „Was tun?” Lassen sich da nicht die Thesen produktiv ineinander auflösen? Ist nicht das Ende der Spielräume innerhalb des Kapitalismus eine Möglichkeit eine Politik außerhalb von ihm zu entwickeln?
NT: Ich denke in der Tat, dass dieser Begriff der Reform für Bewegungen oder Regierungen wie in Lateinamerika (Chavez, Bolivien) nicht mehr passt. Das Interessante an diesem Prozess ist nicht, was die mit den politischen Institutionen machen. Das Chavez-Regime setzt auf der politischen Ebene nicht das um, was es sich vornimmt und ist – wie allgemein bekannt – ziemlich korrupt. Aber das eigentlich Interessante ist, dass es Spielräume für soziale Bewegungen eröffnet hat. Das, was man im Sinne von Reformismus verstanden hat, war ja was anderes, nämlich dass ich mich in die politischen Institutionen begebe und dann dort Reformen durchsetze, z.B. Aufbau eines Sozialsystems oder Verbesserung des Arbeitsschutzes. Wenn wir dann noch von Politik sprechen wollen, gibt es hier tatsächlich eine Veränderung. Das Interessante läuft unterhalb dieser Ebene. Die Frage, die an eine politische Partei zu stellen wäre, wenn sie an die Macht kommt, lautet: Welche Spielräume eröffnet sie für soziale Bewegungen, die etwas ganz anderes anstreben? Da wäre ich wieder bei der Frage der Aneignung: Auf der politisch-institutionellen Ebene stellt sich immer sofort die Frage der Finanzierbarkeit. Diese Fragen stellen sich nicht in dieser Weise auf der Ebene einer Basis-Politik. Dort kann dann gesagt werden: Wir scheren uns nicht über Finanzierbarkeit, sondern wir nehmen uns die Häuser, das Land, die Ressourcen und machen damit das, was wir für unsere Bedürfnisse brauchen und organisieren uns. Für mich stellt sich die Frage: Welche Spielräume werden da eröffnet? Kann man da noch von Politik sprechen? Ich glaube, man kann hier auf jeden Fall nicht mehr von reformistischer Politik sprechen – es ist etwas anderes.
JW: In Deutschland haben wir das Problem, dass wir in dem wirtschaftlich stärksten Land der Eurozone ein Niveau an Klassenkämpfen haben, das sehr niedrig ist. Das hat natürlich auch damit zu tun hat, dass die Krisenlösungsstrategie in Deutschland eine ganz andere war als in Südeuropa. Deutschland hat das Gegenteil von dem gemacht, was man jetzt von den Ländern in Südeuropa verlangt. In Deutschland ist man sehr stark den sozialpartnerschaftlichen Weg gegangen. Das ist natürlich auch ein Teil des Problems: Wir haben derzeit in Deutschland die niedrigste Zahl von Streiktagen, sowie den Widerspruch, dass es hier eigentlich die stärksten Gewerkschaften gibt, aber die Reallöhne sinken. Diese Frage ist auch deshalb schwer, weil sie die Schwächen von Blockupy gezeigt hat. So hervorragend es auch ist, dass 25.000 Menschen demonstriert haben – es zeigt auch die Schwäche der deutschen Situation: nämlich den Standortnationalismus der Gewerkschaften. Oder in Kauders Worten: „Man spricht jetzt deutsch in Europa.” Dem wird zumindest offensiv nichts entgegen gestemmt. Gerade jedoch Deutschland sollte der Ort sein, wo es Proteste und Widerstand geben muss gegen die Spardiktate und gegen Kürzungen.
Was soll sich heute substantiell verändert haben, dass es keine Spielräume im Kapitalismus mehr gibt – wie Norbert Trenkle behauptet hat – und dadurch Reformen und Reformismus unmöglich geworden sind? Ist die Kapitallogik, von der er spricht, nicht so alt wie der Kapitalismus selbst?
JW: Enge Spielräume gab es immer schon. Es ist richtig zu sagen, dass schon immer Errungenschaften letztlich auch Zugeständnisse waren und nicht einfach Geschenke, die gemacht wurden. Dennoch muss man davon sprechen, dass die Spielräume heute einfach enger sind. Selbstverständlich darf man es nicht zu deterministisch sehen, dass man sagt, jetzt sei Veränderung überhaupt nicht mehr möglich. Klar sind auch heute noch Zugeständnisse möglich, und natürlich kann man auch heute Dinge erkämpfen, dies muss man jedoch sehr viel härter und sehr viel entschlossener machen.
NT: Wir haben hier aufgrund des enormen Produktivitätswachstums eine Untergrabung der Akkumulationsdynamik, die die kapitalistische Gesellschaft voran treibt. Aus diesem Grund gibt es die Verlagerung an die Finanzmärkte. Der Kapitalismus wird heute nur noch getragen durch die Akkumulation von fiktivem Kapital an den Finanzmärkten. Deswegen gibt es diese Rede von: „Es gibt keine Alternative”. Die Zentralbanken müssen Geld in die Märkte pumpen und die Staaten springen ein, wenn die Banken zusammen zu brechen drohen, weil diese Dynamik des fiktiven Kapitals aufrecht erhalten werden muss. Das ist das Dramatische an dieser Veränderung gegenüber den 60er und 70er Jahren. Innerhalb dieses Prozesses gibt es natürlich auch Spielräume wie Finanztransaktionssteuern etc.—aber es gibt nicht mehr den historischen Spielraum nach vorne: diese Dynamik des fiktiven Kapitals lässt sich auf Dauer nicht aufrechterhalten. Diese Form des abstrakten Reichtums, also das Durchpressen jeder Güterproduktion durch die Form von Geld, Ware und Kapitalverwertung muss beendet werden. Die Frage ist aber überhaupt noch nicht angekommen, auch gerade in der Linken nicht. Wenn dort über Reichtum diskutiert wird, wird immer in Geldkategorien gedacht. Das ist der entscheidende Punkt und dieser muss jetzt in die Debatte geworfen werfen. Der sogenannte „Sparzwang” resultiert einzig und allein aus der Notwendigkeit, die Akkumulation von (fiktivem) Kapital aufrecht zu erhalten. Es hat ein Vorgriff auf die Zukunft stattgefunden, d.h. immer mehr zukünftiger Wert wird in die Gegenwart reingeholt, um die Produktion am Laufen zu halten und dies stößt an seine Grenzen. Jetzt ist der historische Moment da, in dem die Frage der Reichtumsform thematisiert werden muss.
TS: Ob Reformismus möglich ist oder nicht, ist aus keiner noch so guten Analyse der Eigendynamik des Kapitals abzuleiten: Dass der Reformismus im 20. Jahrhundert möglich war, hing im Wesentlichen an der Oktoberrevolution. Das Kapital war immer unwillig zu Zugeständnissen, und die Oktoberrevolution hat die bürgerliche Klasse so erschreckt, dass es plötzlich den Willen gab, Zugeständnisse zu machen.
Ich würde einem reformistischen Projekt im 21. Jahrhundert abverlangen, dass es sich auf eine Permanenz des autonomen Widerspruchs aus der Gesellschaft einstellen muss und ihn anerkennt. Das wäre eine Neuerfindung; es wäre ein Projekt, das die Autonomie der Straße und die autonome Selbstorganisation der Menschen auch im Konfliktfall bemüht anzuerkennen. Dafür braucht man eine solidarische Kommunikation der Leute in beiden Lagern – der moderaten und der radikalen Linken. In diesen Organisierungsprozessen werden auch die Fragen der Autonomie der Kämpfe und einer Organisierung derjenigen, die man Kader nennen kann, aufgeworfen. Und angesichts dessen, was die kommunistischen Parteien des 20. Jahrhunderts gewesen sind – und wir sind alle froh, dass sie nicht mehr existieren – finde ich, dass die Wiederaufnahme der Fragestellung, die die Genossinnen und Genossen damals zu beantworten suchten, als sie das Modell KP erfunden haben, wichtig ist und diese Fragestellungen nach wie vor präsent sind. Es gibt eine offene und solidarische Kommunikation zwischen eher reformistischen/moderaten Teilen der Linken und eher revolutionären/radikalen Teilen der Linken, wie es sie historisch noch nie zuvor gegeben hat. Noch nie zuvor wurde die Kommmunikation zwischen moderater und radikaler Linke so offen, so vielfältig und so solidarisch geführt und somit auf Dauer gestellt, wie das gegenwärtig der Fall ist. Wenn es gelingt, diese Kommunikation auf Dauer zu stellen und zu organisieren, dann ist es eine Möglichkeit für eine solche reformistische Figur. Was sie aber für Möglichkeitshorizonte hat, wird davon abhängen, ob es auch knallt. So wie die Oktoberrevolution geknallt hat, und die Möglichkeit bestand, dass sie sich ausweitet – und sie hat sich ja ausgeweitet – auch wenn das dann wieder mit Scheitern verknüpft war. Es hat dann ja, inspiriert von der Oktoberrevolution, antikoloniale Revolten gegeben, die den Kolonialismus zum Einsturz gebracht haben. Wesentlich deswegen gab es in Mitteleuropa Reformen. Das ist eine Option, die sich stellt und an der zu arbeiten sich lohnt. Wenn dem nicht so wäre, würde ich vorschlagen, dass man sich für drei bis vier Jahre zurückzieht und nachdenkt – und zum Beispiel Adorno liest.
Wie wichtig ist Adornos Kritik an dem Widerstandsbegriff und dem Aktionismus der 68er? Ist sie heute vielleicht sogar noch aktueller als 68?
DL: Ich halte den Vorwurf der Pseudoaktivität für falsch. Was sollte dieses Präfix „Pseudo” rechtfertigen? Das ist eben nur erklärbar, indem man eine Vorstellung von Gesellschaft als einer bestimmenden Totalität voraussetzt und weil man vor ihrer Abschaffung nichts als tatsächliche Aktivität gelten lässt. Diese Vorstellung ist falsch und darin hat Adorno einfach geirrt. Man muss ihm allerdings zu Gute halten, dass er sich an dieses Verdikt überhaupt nicht gehalten hat. Adorno selber hat ja unendlich viel Politik gemacht. Er hat nicht nur Vorträge und Texte geschrieben, sondern es sind realpolitische Interventionen gewesen, z.B. in Bildungspolitik. Das ist eine bestimmte Form von Politik: nämlich eine reformistische. Diese hat Adorno verfolgt und hat eine aktivistische Form der Politik abgelehnt.
TS: Adornos Kritik der 68er hielt ich schon damals für falsch und halte sie nach wie vor für falsch, was nicht bedeutet, dass ich Adorno nicht schätzen würde. Aber er war unfähig, sich auf das einzulassen, was unter seinen Augen vorging. Insofern war seine Kritik ein Irrtum.
Bei der Frage, wie man politisches Subjekt wird, ist der Aspekt der Pseudoaktivität aber einer der allerwichtigsten! Wenn die Dinge so sind, wie sie sind, muss man sich das Recht nehmen können, sich zurückzuhalten und sich nicht in Pseudoaktiviät zu verlieren. Ich persönlich komme aus der undogmatischen, post-leninistschen, halb-maoistischen Linken der 70er Jahre, und ab einem bestimmten Zeitpunkt gab es um mich herum nur noch grün und autonom. Beides fand ich falsch, und habe es für Zeitvergeudung gehalten und habe mich für einige Jahre zurückgezogen um nachzudenken. Man kann auch politisches Subjekt sein, wenn man nicht in Aktivismus verstrickt ist, aber man wird nicht darum herum kommen, zum Aktivismus zurückzukehren. Wenn man ein für alle mal austritt, hört man auf, politisches Subjekt zu sein.
JW: Die entscheidende Frage ist doch nicht, ob man sich streitet in der Linken, sondern ob bei so einem Streit letztlich am Ende so etwas wie eine gemeinsame Aktion bzw. eine gemeinsame Praxis steht. Es macht wenig Sinn, unproduktiv über Dinge zu streiten, wenn es letztlich nicht zu einer gemeinsamen Praxis führt. Darin steckt die Frage, worauf man sich heute eigentlich einigen kann und was denn die Aufgabe für die heutige Linke ist. | P
Transkribiert von Gregor Baszak, Markus Niedobitek, Nicolas Schliessler, Jerzy Sobotta.