Platypus Review #17 | November 2009
Die Jahreszahl, die mir zur Diskussion vorgeschlagen wurde (1933), ruft sofort zwei Namen in Erinnerung: Roosevelt und Hitler - Reformismus oder Barbarei. Ich will diese Namen jedoch mit einem anderen Paar und einer anderen Jahreszahl verbinden. Die Jahreszahl lautet 1940. Die Namen lauten Trotzki und Benjamin. Diese vier Namen sind als Kontraste sowie als Parallelen zu verstehen. Auf den ersten Blick erscheinen Hitler und Roosevelt, der New Deal und der Faschismus, als polare Gegensätze. Wie jedoch Wolfgang Schivelbusch feststellte, haben die Zeitgenossen Roosevelt und den Faschismus als Phänomene wahrgenommen, die ähnliche Probleme adressieren, wenngleich mit unterschiedlichen Methoden. In ähnlicher Weise steht es mit Benjamin, dem melancholischen Mandarin, und Trotzki, dem glühenden Revolutionär, die der These von Platypus zufolge beide - obwohl scheinbar gegensätzliche Pole des marxistischen Diskurses vertretend - als Antworten auf die Krise des Marxismus betrachtet werden müssen, genauso wie Roosevelt und Hitler Antworten auf die Krise des Kapitalismus verkörpern. Diese zwei Krisen, die Krise des Kapitalismus und die Krise des Marxismus, haben die Geschichte des 20. Jahrhunderts bestimmt und belasten weiterhin die Geschichte des 21. Jahrhunderts.
Diese zwei Paare sind auch aufgrund ihres Sterbedatums miteinander verbunden: Hitler und Roosevelt sind im Jahre 1945 gestorben, Trotzki und Benjamin im Jahre 1940. Während solche Fakten in einem bestimmten Sinne bloße Zufälle sind, können diese auch als Zeichen gelesen werden. Eine Generation kann sowohl aufgrund ihres Sterbe-, als auch ihres Geburtsdatums bestimmt werden.
Zwei marxistische Flüchtlinge mit großem literarischen Talent, zwei Männer, die die Erfahrung „eines Planeten ohne Visum” machten: Trotzki und Benjamin waren Teil eines Typus, der unter Juden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitet gewesen war, bevor der Holocaust und die Staatsgründung Israels die historische Zäsur brachten: Männer eines tiefen Kosmopolitismus, der heute nur noch schwer vorstellbar ist. Sie beide schienen - trotz allem, was sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ereignete - noch in einem frühen, weniger düsteren Jahrhundert verwurzelt. Sie sind nicht nur Figuren ihrer Zeit, sondern auch außerhalb ihrer Zeit - Figuren „um neunzehnhundert”. Deren unnatürliche Tode scheinen eine unverständlich-grauenhafte neue Welt zu antizipieren: Auschwitz und Hiroshima stehen kurz bevor, und doch verpassen sie diese Ereignisse. Es ist ebenso schwierig sich Trotzki und Benjamin in der Nachkriegswelt vorzustellen, wie Voltaire und Rousseau in dem Zeitalter nach der Französischen Revolution. Sie kündigten etwas an und reichten deshalb nicht über das Angekündigte hinaus. Wenn Gedichte schreiben nach Auschwitz barbarisch ist, wie Adorno bekanntermaßen sagte, so sind beide aufgrund ihres frühen Todes von der Schwere dieser Aussage unbetroffen geblieben. Sie verkörpern Fragmente der nicht-verwirklichten, verborgenen Gegen-Geschichte des 20. Jahrhunderts - einer Geschichte, die aufgrund ihrer verpassten Möglichkeiten lebendig und gegenwärtig bleibt.
Im Kontrast hierzu verkörpern Roosevelt und Hitler die sogenannte „wirkliche” Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wenn Trotzki und Benjamin die versperrten utopischen Möglichkeiten symbolisieren, die in der kapitalistischen Gesellschaft verborgen bleiben, so zeigen Hitler und Roosevelt im Gegensatz dazu die Barbarei auf, die hinter der Fassade der bürgerlichen Gesellschaft lauert und die vermeintlich „realistischen” Grenzen, die unserer Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft gesetzt sind. Schließlich spielte Roosevelt den „guten Bullen” und Hitler den „bösen Bullen”. Es spricht viel für die Mangelhaftigkeit und Armut unserer historischen Situation, dass - inmitten der größten kapitalistischen Krise seit den 1930ern - die größte Hoffnung und der Horizont der amerikanischen Linken in Roosevelt besteht. Dies wird deutlich in der weit verbreiteten Frage: Wird Obama ein neuer FDR sein? Von den Phantastereien eines neokonservativen „Faschismus” vor ein paar Jahren sind große Teile der Linken mühelos zu Phantastereien einer neuen Volksfront fortgeschritten. Aber das Offensichtliche wird natürlich übersehen: Es gibt für Obama keine sozialistische Gefahr, die er abfangen müsste. Im Gegenteil nehmen die Proteste gegen die finanziellen Rettungsaktionen die Form eines rudimentären Populismus an. AIG und „Gier”, nicht der Kapitalismus, sind die Ziele der Kritik.
In ähnlicher Weise muss man ebenfalls zugeben - wenn auch das erklärte Ziel der Neokonservativen einer „Verbreitung der Demokratie” ideologische Augenwischerei ist -, dass das Hauptziel des US-Imperialismus nicht mehr hauptsächlich die Linke ist, wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Ganz im Gegenteil sind die gegenwärtigen „wars of empire” Kriege gegen politisch extrem rechte Kräfte, wie in Afghanistan - Rechte Kräfte, die mit dem Faschismus mehr gemeinsam haben als eine bloß äußerliche Ähnlichkeit. Dieser rudimentäre quasi-Faschismus ist jedoch vom weltbedrohlichen großen Faschismus der 1930er und 1940er ebenso verschieden wie von den Che Guevaras der 1960er Jahre. In der großstädtischen Linken prallen „anti-faschistische” und „anti-imperialistische” Impulse über das Problem hinweg und hinterlassen nur Verwirrung.
Wenn beispielsweise die Obama-Regierung gegen somalische Piraten „Krieg” führt, werden dementsprechend manche auf der Linken sich genötigt fühlen, Solidarität mit den Piraten auszudrücken. Wir werden zu hören bekommen, dass Imperien in Wirklichkeit „große Piraten” sind et cetera. Niemand glaubt natürlich, dass Piraterie wirklich Sozialismus ist - aber angesichts des Fehlens von Sozialismus begnügt man sich mit der Piraterie und etikettiert diese als „Widerstand”. Die schiere Misere der Gegenwart kann nicht aufrichtig als solche anerkannt werden. Um einen Ausdruck von Robert Musil zu verwenden: „Seinesgleichen geschieht”. Pseudo-Realität ist die vorherrschende Form in einer Welt der Pseudo-Politik. So etwas wie Realität geschieht zwar, aber diese ist nur schwer fassbar. Wir fühlen das, sind uns aber unsicher, wie wir es artikulieren sollen. Wir versuchen das zu ignorieren, was wir wissen. Wir suchen nach historischen Spiegeln, merken aber, dass die Spiegel alle überdeckt sind - wie in einem Haus, in dem sich ein Leichnam befindet.
Aber wie sind wir von der Welt des Jahres 1940 hierher gekommen? Damals war die Welt nicht so kläglich depolitisiert wie heute. Sicherlich: es war eine tragische und beängstigende Welt, aber tragisch und beängstigend wirklich. Der Unterschied liegt natürlich nicht in „der Welt”, sondern in unserer Fähigkeit diese zu verstehen. Die zentrale Bedeutung von „Regression” ist diese: In zunehmender Weise adressiert die Linke nicht die Welt, sondern ihre eigene ungelöste Geschichte. Man sollte Niederlagen nicht bloß als etwas verstehen, das der Linken von der Rechten aufgrund größerer Gewalt aufgezwungen wurde; vielmehr hat die Linke die Niederlagen in ihren Denkweisen tief internalisiert - zum Zweck der Selbstzensur. Vor allem zwei historische Perioden müssen immer wieder neu inszeniert und missverstanden werden: die 1930er und die 1960er. Diese sind keine Höhepunkte oder Modelle - wir dürfen jetzt weder eine neue „Neue Linke” noch eine neue „Alte Linke” zu konstruieren versuchen. Vielmehr sind diese beiden historischen Momente wesentliche Etappen in der langen Geschichte der Desintegration der Linken. Die Periode von 1933-1940 ist der letzte Versuch des klassischen Marxismus sich selbst - angesichts der doppelten Bedrohung von Stalinismus und Faschismus - neu zu wappnen. Trotzki verkörpert die zentrale Figur in dieser Anstrengung. Trotzki war der letzte Vertreter der radikalen Linken der Zweiten Internationale und mit ihm endet die Geschichte des klassischen Marxismus.
Dies war der Grund sowohl für Trotzkis Größe als auch für seine Limitation. Im Gegensatz dazu hat die Frankfurter Schule, obwohl sie politisch nicht so eindeutig war wie Trotzki, manche Dinge womöglich klarer gesehen. Man könnte sagen, dass Trotzki den Stalinismus und die Frankfurter Schule den Faschismus besser verstanden hat. Schließlich haben der Trotzkismus und die Frankfurter Schule nur als Herausforderungen überlebt. In der Welt der Nachkriegszeit stellten sich beide nicht als intellektuell schöpferisch heraus. Es war ihnen höchstens möglich, einen Standpunkt zu verteidigen. Adorno blieb eine einsame Figur und die Trotzkisten - in allen ihren Spielarten - waren sogar ihrer eigenen Einschätzung nach bloße Epigonen. Die besten Trotzkisten würden darauf beharren, dass in den zwei Dritteln des Jahrhunderts nach Trotzkis Tod so gut wie nichts entstand, was den Namen „marxistische Theorie” verdiente. Obwohl skandalös, entspricht dies wahrscheinlich der Wahrheit. Wenn wir den Marxismus ernst nehmen wollten, bestünde die zentrale Aufgabe eines jeden marxistischen Theoretikers heute darin, folgende Frage zu beantworten: Warum haben wir keine adäquate marxistische Theorie der Gegenwart?
Wenn jedoch die 1930er eine Tragödie waren, d.h. eine wirkliche Niederlage, und die 1960er eine Farce, d.h. eine Niederlage bevor der eigentliche Kampf beginnen konnte, dann muss verstanden werden, wie der Übergang aussah. Die 1960er haben die 1930er in vielerlei Hinsicht wiederholt, ohne die 1930er wirklich zu verstehen. Daher beispielsweise das Paradox des Maoismus - eine Rebellion gegen den Stalinismus, die selbst hyper-stalinistisch war und ist.
Danach setzte der Zwang der Wiederholung ein und eine damit einhergehende Entleerung politischer Bedeutung. Die Friedensbewegung stirbt nie, aber nur weil sie nie gewinnt, noch auf ihre Ziele hin reflektiert. Es wird immer Krieg geben. Wir können immer für „Frieden und Gerechtigkeit” sein, nicht wahr? Es wird immer etwas geben, dem man „Widerstand” leisten kann. Unendlicher, niemals endender „Kampf” - bzw. das Zerr- und Scheinbild eines Kampfes - ist alles, was zählt. „Kampf” ist zu einem Symptom geworden, nicht zu einem Mittel. Man kann nicht einmal mehr Reform und Revolution gegenüberstellen; zunehmend hat die Linke aufgegeben, das Eine oder das Andere für möglich zu halten. Beide beinhalten die Frage und Möglichkeit von Macht; aber wie kann eine machtlose Linke es wagen, über Macht nachzudenken? Stattdessen ist man angehalten an einen Mythos zu glauben: an den Mythos der 1960er.
Viele Jahrzehnte lang schien es, als ob das Warten auf eine Wiederholung der 1960er kein Ende nehmen wollte. Im letzten Jahr hat sich der „Zeitgeist” jedoch endlich zu ändern begonnen. Auf der einen Seite die Wahl von Obama, einem schwarzen Mann der „post-boomer”, beunruhigend konservativ und beliebt beim „White America” und auf der anderen Seite eine reale ökonomische Katastrophe, die all die alten großen „Zusammenbruchstheorien” wieder belebte, die wir für verloren erachteten. Endlich fängt sogar die Linke an zu realisieren, dass die 1960er vorbei und „tot” sind. Und jetzt warten wir auf die 1930er. Identitätspolitik ist passé, nur dass jetzt „Klasse” zum neuen Schwarz geworden ist.
Das Problem ist, dass wir an diesem Punkt bereits gewesen sind. Zum Beispiel erinnern sich einige vielleicht noch daran, dass es in den 1970ern eine „Wendung zur Arbeiterklasse” von denjenigen der Neuen Linken gegeben hat, die nur wenige Jahre vorher die Arbeiterklasse verabschiedet hatten. Deutlicher ausgedrückt: Die 1930er waren ein Jahrzehnt der Niederlage für die Linke. Das Letzte, was wir brauchen, ist eine Rückwendung zum Jahr 1933! Der Mythos der 1930er ist die Kehrseite des Mythos der 1960er. Dies liegt darin begründet, dass die wirkliche, aber versäumte Möglichkeit revolutionärer Politik in den 1930ern besiegt worden ist und deshalb eine gespenstische und verworrene Form in den 1960ern annimmt. Es ist die Unfähigkeit von Linken seit den 1960ern, die geläufige Vorstellung zu überwinden, dass die 1960er eine fortschrittlichere und bessere Form der Politik verkörpern - dass die sogenannte „Neue” Linke die „Alte” Linke überholt hat - , die zur fast kompletten Verknöcherung und Irrelevanz der Linken in der Gegenwart führt. Weder die 1960er noch die 1930er können als Muster für eine zukünftige Linke dienen, solange diese nicht als das doppelte Trauma erkannt werden, das die Linke überwinden muss.
Das ist jedenfalls die Platypus-These der „Regression” auf den Punkt gebracht. Ist das eine hoffnungslos pessimistische Sichtweise? Sicherlich, sie nimmt keinen Anteil an Trotzkis revolutionärem Optimismus. Der Optimismus des klassischen Marxismus war einmal historisch gerechtfertigt, ist es aber heutzutage - leider - nicht mehr. In dieser Hinsicht ist Platypus einem Benjamin näher als einem Trotzki. Aber wir in Platypus glauben, dass unsere Sicht hoffnungsvoll pessimistisch ist. Wir glauben weiterhin daran, dass eine selbstkritische und akkurate Erkenntnis des eigenen Defätismus das Potential einer Rekonstruktion der Linken schaffen kann, die eine Zukunft für menschliche Freiheit möglich macht. Wir lehnen falschen Optimismus ab, eben weil wir weiterhin hoffen - falscher Optimismus ist der tödlichste Feind von wirklicher Hoffnung. Auf Nietzsches Frage: „Gibt es einen Pessimismus der Stärke ?” antworten wir: „Ja!” | P