Was war neu an der ‚Neuen Linken'?


Die Platypus Review #2 | May 2016

Am 11.06.2014 veranstaltete Platypus an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Was war neu an der ‚Neuen Linken’?“. Teilgenommen haben: Detlef zum Winkel (freier Journalist), Alex Demirović (damals Goethe-Universität) und Stefan Eggerdinger (Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD). Es folgt ein gekürztes und überarbeitetes Transkript der Veranstaltung.

Eröffnungsstatements

Detlef zum Winkel

Ich habe zwei Thesen für diese Diskussion ausgewählt, die meine individuelle Meinung widerspiegeln. Meinen ersten Punkt möchte ich mit einer gängigen Parole der damaligen APO beginnen: Sie hieß „Ami go home”, war erkennbar gegen den US-Imperialismus gerichtet und stand im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg. Auch heute noch ist der US-Imperialismus Gegenstand vieler Proteste, weshalb sich die Linke in ihrer großen Mehrzahl und in allen möglichen Ländern der Welt als antiamerikanisch definiert; man sieht eine ungebrochene Tradition. Diese Parole war damals jedoch nicht antiamerikanisch gemeint, im Gegenteil: Als die APO entstand, fehlten ihr inländische Orientierungspunkte, Idole, Vorbilder, Theorien und Organisationen, mit denen man sich auseinandersetzen konnte oder die irgendeine Richtung vorgegeben hätten, an der man sich hätte abarbeiten können. Die deutsche Opposition, die deutsche Linke, war ja durch den Faschismus im wörtlichen Sinne „zerschlagen” worden.

Eine Organisation wie die KPD ist durch eine unbeschreibliche Tortur gegangen: Das Erste war die Auseinandersetzung mit eigenen katastrophalen Fehlorientierungen und Irrtümern, die Hitler den Weg zur Macht erleichtert hatte. Das Zweite, dass die Organisation 1933 zerschlagen wurde, dass viele leitende, aber auch einfache Funktionäre in den Gefängnissen und Konzentrationslagern landeten, wenn sie nicht sofort ermordet worden sind. Das Dritte war der Hitler Stalin-Pakt. Das Vierte war die Zeit während des Krieges, in der man im Exil einige Strukturen aufrechterhalten konnte und dann Widerstandsleistungen für die Rote Armee erbracht hat. Das Fünfte waren die Säuberungen nach dem Krieg, als zahlreiche verdiente Antifaschisten nach Moskau zitiert wurden und glaubten, sie würden jetzt mit dem Lenin-Orden für ihre Leistungen belohnt werden. Das Gegenteil war der Fall: Viele von ihnen landeten im Gefängnis oder in Arbeitslagern, weil man die Hintergründe des Hitler-Stalin-Pakts ungern in der Öffentlichkeit gesehen hätte. Unmittelbar darauf folgte, um wieder zur KPD zurückzukehren, das Verbot in der Bundesrepublik. Diese Leute waren am Ende und traten nicht in der Öffentlichkeit auf, dazu waren sie gar nicht in der Lage. Sie haben versucht, sich selbst neu zu orientieren. Daraus resultierte dann die Gründung der DKP, die keineswegs ein glorreicher Anziehungspunkt war.

Das war einer der Gründe, weshalb Vorbilder, Idole, Papiere, Programme und Orientierungen international gesucht wurden. Man hat also von Befreiungsbewegungen wie der algerischen NLF, der vietnamesischen FNL, der iranischen Opposition gegen den Schah und afrikanischen sowie lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen gelernt und deren Theorien bruchstückhaft in das eigene Denken eingearbeitet; der Anspruch auf eine komplette Ideologie oder Theorie war damals nicht vorhanden. Der prägende Stempel hinter all diesen Theoriefragmenten, die man sich angeeignet hat, war immer amerikanischen Ursprungs. Alles, was von uns publiziert oder an Aktionsformen übernommen wurde, kam aus den USA. Es wurde dort zuerst ausprobiert, publiziert und von uns in der ein oder anderen Weise angeeignet.

Meine zweite These bezieht sich auf den Antifaschismus. Es war für uns alle mehr oder weniger selbstverständlich, sich antifaschistisch zu betätigen, gegen die Neugründung der NPD aufzutreten und an allen möglichen örtlichen Aktionen teilzunehmen. Der Kommunistische Bund (KB), in dem ich mich damals wiederfand, entwickelte mit der Zeit eine Faschisierungsthese. Das heißt, der antifaschistische Kampf war für diese Organisation prägend. Der KB war neben dem Arbeiterbund die einzige Organisation – und das ist vielleicht kein Zufall –, die dieses Thema so intensiv aufgriff. Anfang der 80er Jahre stellten wir fest, dass es eine Form von linkem Antisemitismus gab, was nach einem heftigen Meinungsstreit dazu führte, dass wir die Organisation auflösten. Wir hielten es für unmöglich, dass hier linke Antisemiten auf der einen und linke Antifaschisten auf der der anderen Seite in ein und derselben Organisation sind. Das musste beendet werden und wurde auch beendet.

Dies wiederum hat dazu geführt, dass wir die Frage des Antisemitismus rückblickend auf die Geschichte der Arbeiterbewegung und der „Alten Linken” gerichtet haben. Nicht nur die Unterstützung des Faschismus, sondern auch linker Antisemitismus, vor allem im Stalinismus, beim Hitler-Stalin-Pakt, bei den Moskauer Prozessen und auch nach 1945, als mit antisemitischen Argumenten speziell in der Tschechoslowakei und Polen gearbeitet worden ist, hat eine Rolle gespielt. Dieser Befund hat auch heute noch nichts an seiner Bedeutung verloren. Wir haben bei jeder Frage, bei der Linke heutzutage zu Felde ziehen und meinen demonstrieren zu müssen, eine manchmal ausgesprochene, manchmal unausgesprochene Kluft zwischen denjenigen, denen es nur um Antiamerikanismus und Antizionismus geht, und denjenigen, die so etwas für unvereinbar mit marxistischer Theorie halten.

Alex Demirovic: Die Frage nach der „Neuen Linken” hat sich gar nicht direkt im Verhältnis zur „Alten Linken” gestellt. Was die „Alte Linke” war, wusste man nicht, weil es sie nicht gab. Sie wurde verfolgt, ermordet und befand sich im Exil. Die Studentenbewegung habe ich als Schüler erlebt. Die lebendige Erfahrung von Kommunisten und Sozialisten war denkbar gering. Es gab zwar Einzelne, aber man musste sich wirklich „proaktiv” verhalten, damit man mit diesen Leuten in Kontakt kam. Das waren Sozialdemokraten, vielleicht noch Betriebsräte, und einige haben Betriebsarbeit gemacht – insgesamt war das aber eine eher kleine Gruppe. Kommunismus war also kaum jemandem ein Begriff, und für uns stellte sich die Frage nach der Wiederbelebung und der Anknüpfung an diese Tradition.

Es stellte sich relativ schnell heraus, dass die Tradition der „Alten Linken” eine war, die vieles von dem, was für uns interessant war, gar nicht mochte: Georg Lukács wurde nur teilweise, Karl Korsch und vieles andere überhaupt nicht rezipiert, und Gramsci gab es praktisch nur in einer vagen Version der eurokommunistischen Tradition. Dies bedeutete, dass viele Traditionen ohne Weiteres nicht zugänglich waren.

Der Begriff „Neue Linke” war eine Formel für das Selbstverständnis einer marxistischen und linken Debatte, wie sie sich in den frühen 60er Jahren in Großbritannien herausgebildet hat. Sie hatte im Wesentlichen Anteil an akademischen Diskussionen, schloss aber auch eine ganz neue Ausarbeitung und Durcharbeitung der (kommunistischen) Arbeiterbewegung mit ein. Darunter fielen auch die Marx’schen Texte, die wir abseits der parteioffiziellen Kanonisierung, für eine kontroverse philosophische und gesellschaftswissenschaftliche Diskussion neu zugänglich machen und weiterentwickeln wollten.

Für uns war es eine Entdeckung, dass wir in einer Klassengesellschaft leben und diese erneut die Demokratie gefährdet. In der Bundesrepublik fand 1966 der große Kongress zum „Notstand der Demokratie” statt, der von SDS und IG Metall zusammen mit einigen Linksliberalen finanziert und organisiert wurde. Man musste wirklich die Gefährdung, die Transformation und Involution der Demokratie fürchten. Der Vietnamkrieg war dafür ein Beleg, ebenso wie die Verschärfung des innenpolitischen Klimas und die Verfolgung von Linken in Westdeutschland. Man hatte das Gefühl, empirisches Wissen zu benötigen, warum diese Klassengesellschaft ihre Klassenwidersprüche nicht austrägt: Wie kann es sein, dass sich Klassen nicht organisieren, obwohl wir uns in einer Klassengesellschaft befinden?

Die systematische Zerschlagung der kommunistischen Tradition in den 20er, 30er und 40er Jahren bedeutete, dass diese für uns Gegenstand einer völligen Neuentdeckung war. Alle diese Schriften mussten neu publiziert werden. Die Dialektik der Aufklärung gab es z.B. nicht und man konnte sie nur als Raubdruck oder als Reprint kaufen. Für mich und viele andere war ein Merkmal dieses „Neuen”, dass es dieses „Saulus-Paulus-Erlebnis” gab; der RCDS ist komplett als Gesamtgruppe in den SDS eingetreten, von einem Tag auf den anderen. Man muss sich klarmachen, wie gewaltig dieser historische Sog war, der dieses „Neue” eben auch mit einer Jugendbewegung, mit einem wirklichen Aufbruch verband. Was hier als Alternativen, Neue Soziale Bewegungen oder kommunistische Parteien entstand, ist dann ja selbst etwas, das aus dem Prozess heraus zu verstehen ist: Kann man die Arbeiterklasse rekonstituieren? Kann man die Vernichtung der Geschichte und Traditionslinien selbst nochmal von Neuem überwinden? Das war sicherlich ein Konflikt innerhalb der damaligen Linken: Wie geht man damit um? Greift man auf diese Tradition zurück? Belebt man sie? Die beiden Mitredner haben das ja versucht.

Es gab verschiedene Bemühungen, diese Tradition neu zu beleben und fortzusetzen, und fast alle größere linken Gruppen hatten Betriebskollektive, auch das Sozialistische Büro Offenbach, dem ich zeitweise nahestand. An „Neue Soziale Bewegungen” hat man in dem Sinne nicht gedacht, sondern an „soziale Bewegungen”, die von der Straße her mobilisieren und diese Gesellschaft durch rege Aktivitäten verändern. Das schloss sehr viele Aspekte und Bewegungen ein, z.B. den KB, in dem Detlev zum Winkel war, und die Auseinandersetzung einiger in der KPD gegen die Kernkraftwerke. Wir hielten solche Themen wichtig für die Neue Linke; manches war letztlich auch hier eine Wiederbelebung der Tradition der Arbeiterbewegung, nämlich andere Formen der Kindererziehung, andere Wohnformen, die Gründung von anti-autoritären Kinderläden oder die Beschäftigung mit psychoanalytischen Traditionen, um sich zu fragen, wie man eigentlich aus seiner kleinbürgerlich-spießigen, zwanghaften, autoritären Identität herauskommt. Dazu gehörten natürlich auch die geschlechtertheoretischen Fragen: Wir haben schnell gemerkt, dass zur Emanzipation auch gehört, die geschlechtliche Identität in Frage zu stellen und es insofern nicht darum ging, besser Frau oder besser Mann zu sein. Das ist einer der wichtigen und nach wie vor nachhaltigen, bedeutungsvollen Unterschiede zu einer „Traditionslinken”: Ist es alleine die Arbeiterklasse, ist es alleine der Betrieb, oder schließt es eben die Gesamtheit der bürgerlichen Lebensverhältnisse ein und müssen diese nicht grundlegend verändert werden? Darin würde ich das Bleibende der ganzen Diskussion der Neuen Linken sehen.

Stefan Eggerdinger: Es ist erstaunlich, dass drei Leute, die fast gleich alt sind, relativ unterschiedliche Perspektiven auf diese Zeit haben. Ich bin kein „68er”, zu dieser Zeit ging ich noch zur Schule. Ich bin dann im Laufe des Studiums in eine linke Fachschaft gekommen und wir haben beschlossen, uns einmal umzuschauen: Was für Organisationen gibt es eigentlich bundesweit? Dadurch sind wir sehr schnell auf die damals wichtigsten Fragen gestoßen.

Vordergründig und organisatorisch ging es damals nach 1968 darum, wie wir nach einer relativ breiten Massenbewegung gegen die Notstandsgesetze weitermachen. Die Notstandsgesetze sind im Mai 1968 verabschiedet worden und die erste Frage war, wie wir uns jetzt orientieren müssen, nachdem diese Klammer des Kampfes weg war. Es gab das Konzept der Basisgruppen der APO, die in verschiedenen Städten entstanden. Eine dieser Basisgruppen waren die Arbeiterbasisgruppen (später Arbeiterbasisgruppen für den Wiederaufbau der KPD), zu denen ich gestoßen bin. Daneben gab es die große Auseinandersetzung mit der DKP. Eine der Grundsatzdiskussionen war die Auseinandersetzung innerhalb der Kommunistischen Weltbewegung nach dem XX. Parteitag der KPdSU, die eine Abkehr von bisherigen Prinzipien, Programmatiken, strategischen und taktischen Festlegungen der kommunistischen Weltbewegung mit sich brachte. Deswegen habe ich vielleicht eine etwas andere Sicht als andere auf das, was die Neue Linke ist. Für mich war neu, was der XX. Parteitag brachte, was man vielleicht mit dem Schlagwort „moderner Revisionismus” kennzeichnen kann.

Unsere Zirkel stritten sich damals mit der DKP um die Fragen, die im Laufe der folgenden Jahre ausgearbeitet und präzisiert wurden. Es ist erstaunlich wie weitgehend wir sie beantwortet haben und wie sehr sie auf der anderen Seite wieder in Vergessenheit geraten sind. Eine Frage war: Ist die Arbeiterklasse nach wie vor die revolutionäre Klasse? Unsere und meine Antwort war: Ja, und zwar unabhängig davon, wie groß ihre Zahl ist, sondern hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Stellung. Die zweite Frage: Braucht diese Klasse eine politische, eine kommunistische Partei? Antwort: Ja. Welche Partei? Und da war die Antwort: Es geht nicht darum, eine kommunistische Partei neu zu gründen, sondern darum, sie wieder aufzubauen. Wir haben uns also sehr bewusst an den kommunistischen Parteien der Dritten Internationale orientiert, und auch an der Kommunistischen Partei Deutschlands, wie sie bis zu ihrem Verbot und ihrer Zersetzung innerhalb der Illegalität bestanden hat. Und ich glaube, dieser Prozess des Wiederaufbaus kommunistischer Parteien ist einer, den man derzeit weltweit beobachten kann, insbesondere nach dem Zusammenbruch von 1989/90.

Diese Aufgabe, die in unserem Organisationsnamen steht: Wiederaufbau der kommunistischen Partei, ist noch längst nicht abgeschlossen. Wie hat dieser Wiederaufbau zu erfolgen? Unsere Haltung war: Nicht dadurch, dass sich einer dieser Zirkel jetzt zur kommunistischen Partei erklärt – das gab es relativ oft, von denen existiert aber keiner mehr –, sondern dadurch, dass wir in der Auseinandersetzung versuchen, diejenigen Kräfte zu finden, die für diesen Wiederaufbau zur Verfügung stehen. Eine weitere strategische Frage war: Kann man sich in unserem Land auf ein Zwischenstadium zwischen Kapitalismus und Sozialismus einigen? Das ist für euch vielleicht keine alltägliche Frage, damals in der Auseinandersetzung mit der DKP war dies jedoch ein sehr wichtiges Thema. Unsere Antwort war: Nein, die nächste Etappe in diesem Land wird die Errichtung des Sozialismus sein. Die DKP sagte hingegen, es gäbe noch zahlreiche Zwischenstufen, wie z.B. eine antimonopolistische Demokratie. Wir lehnten die Stadientheorie jedoch ab. Lehre die Arbeiter erst den ökonomischen Kampf, dann werden sie darauf stoßen, dass sie irgendwann um die politische Macht kämpfen müssen – nein!

Es geht nicht darum, eine Stufenausbildung der Arbeiterausbildung zu machen, sondern man muss ihnen verdeutlichen, dass der ökonomische Kampf einer ist, den sie stets immer wieder verlieren werden, aber dass er notwendig ist, um die Klasse zusammenzuschließen, und dass er notwendig ist, um daran heranzukommen, dass wir wirklich um die politische Macht kämpfen. Ein Teil dieser strategischen Diskussion war: Existiert in unserem Land wieder eine Gefahr des Faschismus? Die allgemeine Ansicht in diesen Organisationen war, dass es in diesem Land nie wieder Faschismus geben kann. Heute sind wir, wenn wir die Augen aufmachen, eines Besseren belehrt worden, aber damals war das ein Gegenstand härtester Auseinandersetzung.

Diese wesentlichen Fragen sind nicht hauptsächlich von irgendwelchen Theoretikern gestellt worden, sondern in direktem Bezug zum praktischen Kampf. So sind die Fragen nach Demokratie, Faschismus, Bedeutung des Kampfs um Demokratie in der Zeit gestellt worden, als die Demokratie ihre ersten Angriffe erlitt: mit den Notstandsgesetzen, mit den Berufsverboten, Antiterrorgesetzen, mit dem Deutschen Herbst der 70er Jahre. Dass die Theorie die Fragen zu beantworten hat, die die Praxis des Klassenkampfs stellt, das haben einige in unsere Zeit hinübergerettet. Ich schließe mit einem Zitat von Marx: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen.”1 Was er damit sagen wollte ist, dass die Theorie uns dazu dienen muss, diese Radikalität der absoluten Opposition gegen die bürgerliche Gesellschaft zu bewahren, zu begründen und in die revolutionäre Klasse zu tragen. Diese Überzeugung mag heute vielen anachronistisch erscheinen; sie ist nach wie vor die meine. Wenn Intellektuelle fragen, wie sie sich nützlich machen können, sage ich: genau so.

Antworten

Detlef zum Winkel: Stefan Eggerdinger hat anschaulich geschildert und auf den Punkt gebracht, was die zentralen Überlegungen in der ersten Hälfte der 70er Jahre waren. Der Massenprotest der APO war gescheitert. Diese Gedanken haben sich diejenigen gemacht, die keine Eintagsfliege sein wollten, die nach einer politischen Theorie gesucht und sich mit dem Marxismus beschäftigt haben. Die Fragestellungen und Antworten, die Stefan genannt hat, sind aber weitestgehend Gegenstand des traditionellen Marxismus und gehören zu dessen ABC. Ich habe sie mir ganz genauso gestellt und die Antwort ist auch nicht wirklich anders ausgefallen. Wir mussten uns Dinge gewissermaßen zusammensuchen. Da gab es zum Teil Raubdrucke und Schriften, die weitgehend unbekannt waren; wir waren neu auf dem Gebiet. Entsprechend unbefangener haben wir diese Texte gelesen und sind so auch an die Stellen gekommen, an denen es wehtut, d.h. wo die Antworten umstritten waren und nicht mehr auf der Hand lagen. Dies betraf auch die Frage, wie es zu der Entwicklung in der Sowjetunion kommen konnte. Wie ist es zu einer anhaltenden Diktatur gekommen? Zu einer Pervertierung des ursprünglichen Begriffs der Diktatur des Proletariats von Marx, der ja eigentlich eine Demokratie für das Proletariat und eine Diktatur gegen die Bourgeoisie sein sollte? Wie kann es angehen, dass in den sozialistischen Ländern offiziell die Parole „Den Kapitalismus einholen und überholen!” ausgegeben wurde, was zeigte, dass man schon zufrieden gewesen wäre, wenn man ihn hätte einholen können? Es ist nicht zu einer Entwicklung der Produktivkräfte und nicht zu einer kreativen Entwicklung der Gesellschaft, einer neuen Form von Demokratie, gekommen, sondern zu einer Stagnation und zu einem Rückschritt. Wir erklärten uns dies, indem wir uns an den Debatten der internationalen kommunistischen Bewegung orientierten. Die Antworten schien China zu liefern. Maos Schriften schienen zu akzeptieren, dass mit der Revolution und mit der Vergesellschaftung die Klassen nicht verschwunden sind, sondern dass nach wie vor eine Klassengesellschaft existiert und dass man dem Rechnung tragen muss. So kam es zur Beliebtheit von Mao. Das ist aus meiner heutigen Sicht einfach ein Selbstbetrug gewesen: Das, was Mao damals formulierte, war nichts anderes als das, was vor ihm schon Trotzki, auf unterschiedliche Art und Weise, formuliert hatte. Aber Trotzki ist derjenige gewesen, der sich tatsächlich bemüht hat, eine Klassenanalyse der Sowjetunion vorzunehmen und der über die Herausbildung neuer Klassenzusammenhänge gesprochen hat. Es geht hier um den Grundsatz, dass mit der sozialistischen Revolution nicht die Probleme zu Ende sind, sondern gerade erst anfangen. Da wäre Trotzki der richtige Orientierungspunkt gewesen. Der Bezug auf Mao war eine Feigheit der damaligen Linken: Wir mussten natürlich auf der Seite der Gewinner sein. Dort, wo die Massen weltweit hinstürmten.

Alex Demirovic: Aus meiner Sicht stellt sich das ganz anders dar, als Detlef zum Winkel es gerade geschildert hat. Im Institut für Sozialforschung gab es nach Adornos Tod einen großen Linienkonflikt, weil die Hälfte der Mitarbeiter Trotzkisten waren, die anderen hingegen Teil der Frankfurter „undogmatischen Linken”. Es haben sich ja, ähnlich wie im Falle der K-Gruppen, eine ganze Reihe neuer trotzkistischer Gruppen gebildet: Es gab z.B. die „Gruppe Internationale Marxisten” (GIM) mit Ernest Mandel. Trotzki zu lesen macht auf jeden Fall Sinn – aber es ist eben schon gemacht worden. Gerade jetzt läuft zwischen den früheren Mitarbeitern des Instituts für Sozialforschung eine Auseinandersetzung darum, dass der Trotzkismus im Institut genau dieselben, teilweise dogmatisierenden, zerstörerischen und, wie du, Detlef, sagst, „feigen” Verlaufsformen angenommen hat wie in anderen Bereichen auch. Bei aller Sympathie für die Frage der Wiederentdeckung der Arbeiterklasse und deren Aufbau bestand eine der größten Schwächen im Anschluss an den Weltkommunismus.

Ich habe 1974 bei Alan Badiou in Paris ein Seminar zur Dialektik besucht, in dem er die Volkszeitung aus China verteilte, die dort gelesen wurde. Wenn man sich seine Bücher, die ja viel diskutiert werden, vor Augen führt, kann man bis heute sehen, dass bei ihm eine große Unkenntnis der internationalen zeitgenössischen und empirisch angereicherten marxistischen Diskussion herrscht; ein großes Maß nicht nur an Feigheit, sondern auch an Verdummung, weil über die lebendigen Prozesse, d.h. die Frage, wie die realen, konkreten kapitalistischen Verhältnisse organisiert sind – das, was Lenin „das Salz des Marxismus” genannt hat, nämlich die konkrete Analyse der konkreten Situation – nicht wirklich nachgedacht wurde. Es hat da auf der einen Seite diese sehr allgemeine Orientierung an der kommunistischen Tradition gegeben und auf der anderen – was natürlich erst mal ein großer Fortschritt war, nach all den Verstellungen in der Tradition – hier in Frankfurt die Wiederentdeckung von Marx. Marx einfach zu lesen, auch die Grundrisse und all diese Schriften ausführlich zu rekonstruieren, das wurde ja nirgendwo gemacht. Das Problem ist natürlich, dass das in Frankfurt zu demselben Fehler geführt hat. Ich habe lange bei Backhaus studiert und Moishe Postone war damals ein Kommilitone von mir; alle diese Diskussionen, die in seinen Büchern oder Texten angestoßen wurden, waren damals unser täglich Brot.

Was daran fehlte, war die Breite der geführten und lebendigen marxistischen Diskussion, also mit allen Pros und Contras, mit allen Differenzen: Das betrifft die Wiederaufnahme oder die Fortentwicklung in Frankreich mit Althusser oder Poulantzas, in England mit dem Kulturmarxismus von Stuart Hall oder E. P. Thompson, die Neuentdeckung des integralen, kritischen Textes der Gefängnishefte von Gramsci, die weitergehenden lebendigen Debatten, wie man sie z.B. bei Marcuse findet, die auf die konkreten Konstellationen, die Subjektentwicklung, die Rolle der Kulturindustrie etc. eingehen. Und diese Lebendigkeit ist aus meiner Sicht das, was das Neue an der Neuen Linken ist. Die alten Organisationsformen haben zum Stalinismus geführt und manche Praktiken in den K-Gruppen waren ihrerseits wiederum stalinistisch. Was uns interessiert hat, war die Frage: Was muss man tun und welche Organisationsform muss man entwickeln, um den anti-autoritären, undogmatischen Bezug auf die Wirklichkeit dauerhaft zu gewährleisten; um dieses kritische, praktische, anti-autoritäre Verhältnis weiterhin aufrechtzuerhalten und sicherzustellen, dass wir nicht von uns aus in autoritäre Traditionen verfallen? Denn diese waren natürlich auch bei uns implizit vorhanden.

Stefan Eggerdinger: Ich möchte meine Sicht über China ausführen. Für uns war Mao eine Entdeckung, weil er die Fortsetzung des Marx’schen Gedankens der Permanenzerklärung der Revolution geleistet hat. Auf all das, was irgendwo hinter dem „Eisernen Vorhang” passierte und von dem wir spürten, dass etwas nicht ganz stimmen kann, gab die chinesische Kulturrevolution eine Antwort, indem sie verdeutlichte, dass, wie Marx in den Feuerbachthesen gesagt hat, es darum geht, dass der Erzieher erzogen werden muss; dass die kommunistische Partei stets wieder von den Massen erzogen werden und sich den Massen zur Diskussion stellen muss. Das war für uns eine Offenbarung, weil es bedeutete, dass nichts dadurch erledigt ist, dass die Ausbeuterklassen geschlagen sind. Wir müssen heute daran erinnern, was Marx in der elften Feuerbachthese sagt: Die Philosophen haben die Welt verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an sie zu verändern. Und sie wird verändert, indem die Theorie zur materiellen Gewalt wird, d.h. indem die Theorie dazu genutzt wird, Fragen zu klären, die der Klassenkampf aufwirft.

Ich werde euch eine dieser Fragen nennen, um die sich keiner, der sich auf die Neue Linke beruft, ansatzweise kümmert: Was passiert zur Zeit in der Ukraine? Wir sind theoretisch mit einer völlig neuen Frage konfrontiert, die weder Marx noch Engels noch Lenin noch Stalin noch Mao jemals kannten – was passiert in Ländern, die einmal den Sozialismus erkämpft hatten und die wieder zurückgeschlagen werden? Heute wird so getan, als ob diese Länder zurück in den Kapitalismus gegangen sind. Das ist aber völliger Blödsinn! Wir befinden uns in einer Situation, die sehr stark davon geprägt ist, dass dort Sozialismus geherrscht hat. Nur wenn wir dies zur Kenntnis nehmen, verstehen wir diese Menschen und diese Kämpfe. Das ist eine theoretische Aufgabe unserer heutigen Generation.

Wer von denen, die so viel von Gramsci gelesen haben, stellt heute solche Fragen? Ich habe von Gramsci sehr wenig gelesen und ich werde höchstwahrscheinlich im Rest meines Lebens nicht mehr allzu viel von ihm lesen, aber ich werde sehr viel vom Rest meines Lebens damit verbringen, die politökonomischen, philosophischen und historischen Fragen zu klären, die damit zusammenhängen, dass die Welt, nachdem ein Drittel „rot” war, wieder zurückgeschlagen worden ist. Nach meiner festen Überzeugung kann man nicht so tun, als hätte man damit wieder einen funktionierenden Kapitalismus. Es ist etwas Neues. Was ist das? Das sind Aufgaben, die gestellt werden, und darauf müssten wir unsere theoretischen Kenntnisse verwenden. Wir haben keine Institute mehr wie in den 30er Jahren, die daran arbeiten. Wir wenigen, mit unseren Köpfen, müssen das tun. Das ist mein Verständnis von dem, was uns das Erbe der Neuen Linken sagt: Seid nützlich, aber wem?—Der Arbeiterklasse und der Revolution. Da haben wir nützlich zu sein. Alles andere bedeutet, die Welt bloß unterschiedlich zu interpretieren.

Publikumsfragen

Ich habe eine Frage zum Begriff der Demokratie. Rosa Luxemburg sagt in Sozialreform oder Revolution?: Der Reformismus möchte den Sozialismus durch Demokratie verwirklichen; die Demokratie kann aber nur durch den Sozialismus verwirklicht werden. Lenin wiederholt das in Staat und Revolution. Was bedeutet es, wenn verschiedene Seiten unter Demokratie offensichtlich sehr unterschiedliche Dinge verstehen?

Detlef zum Winkel: Rosa Luxemburg sagt, Demokratie kann erst im Sozialismus verwirklicht werden – das ist marxistische Theorie und wird vollkommen logisch aus der Theorie der Klassengesellschaft abgeleitet. Die Realität ist aber leider eine andere: Luxemburg sagt, es kann nur so sein. Es ist aber nicht so – weder in der Sowjetunion noch in den mit ihr verbündeten Staaten noch in China. Wir hatten eine bestimmte Vorstellung, was die Kulturrevolution sein könnte, aber die Realität war doch eine ganz andere. Sie endete in einem furchtbaren Machtkampf verschiedener Parteicliquen, und wenn das noch nicht klar genug war, dann war es doch endgültig auf dem Platz des Tian’anmen zu Ende. Die sind dort mit roten Fahnen gelaufen, haben die Internationale gesungen und sind mit Panzern niedergewalzt worden. Das ist das Ergebnis dessen, von dem wir gedacht hatten, im chinesischen Modell ist Klassenkampf möglich. Es ist also umgekehrt: Wenn man sagt, Sozialismus ist eine Klassengesellschaft, dann muss man das auch akzeptieren, dann muss man diesen Klassen im Sozialismus auch Entfaltungsmöglichkeiten geben. Dann muss man ähnlich, wie das der Kapitalismus oder die bürgerliche Gesellschaft auch enthält, die Möglichkeit zu Gewerkschaften, verschiedenen Parteien, Betriebsräten, Mitbestimmung und Parlamenten zulassen. Es reicht nicht, einfach direkte Demokratie zu proklamieren, sondern man muss alle möglichen institutionellen Möglichkeiten nutzen, in denen diese Klassengesellschaft ihren Klassenkampf austrägt. Es ist nötig, auch im Sozialismus Umgangsformen zu finden, denn es ist nicht jeden Tag Revolution. Sozialismus sollte letztendlich besser und demokratischer als der Kapitalismus sein, sonst ist es keiner.

Stefan Eggerdinger: Der Inhalt des Begriffs der Demokratie hat sich stark verändert. Die Demokratie ist für die Bourgeoisie, also für die Produktionsmittelbesitzer, von einem Zweck zu einem Mittel geworden. Die bürgerliche Demokratie, mit ihren verschiedenen Parteien, Freiheit der Presse, Parlament usw., war lange Zeit für die herrschende Klasse eine absolute Notwendigkeit. Sie war zersplittert in hunderttausende von Produktionsmittelbesitzer und brauchte Instrumente, ihren eigenen Willen zu finden. Demokratie war für sie ja nie irgendetwas, wo das Volk wirklich mitzureden gehabt hätte, sondern eine Form, in der die herrschende Klasse ihre Meinungsbildung betreibt. Mit der Monopolisierung der Produktionsmittelbesitzer hat sich das geändert. Heute sind die Demokratie und ihre Spielregeln, der Parlamentarismus, die freie Presse etc., ein reines Mittel geworden, das man einsetzen kann, das man aber – wie der Faschismus gezeigt hat – im Bedarfsfall genauso über Bord werfen kann. Folgende Fragen haben wir damals diskutiert: Welchen Stellenwert hat der demokratische Kampf eigentlich? Soll man überhaupt um diese bürgerliche Demokratie kämpfen? Soll man sie überhaupt gegenüber faschistoiden oder faschistischen Tendenzen oder Angriffen verteidigen? Die Antwort, die wir gefunden haben und die meines Erachtens nach wie vor gültig ist, heißt: Ja, man muss es tun, in dem Bewusstsein, dass man damit nur den besseren Kampfboden für sich selbst verteidigt. Es ist ja zweifellos klar, dass die Demokratie ein besserer Kampfboden als die faschistische Diktatur ist, aber mehr auch nicht. Das war eine heftige Debatte, die sich an ganz praktischen Dingen entzündet hat.

Alex Demirovic: Es besteht eine große Gefahr, dass man die Form der bürgerlichen Demokratie bloß taktisch sieht, nämlich als guten Boden, auf dem man rechtlich abgesichert ist und Spielräume nutzen kann. Das ist aus meiner Sicht eine der Hauptstreitfragen innerhalb der Linken in den letzten 100 Jahren. Es stellt sich nämlich die Frage: Was ist denn dann die Demokratie, die danach kommt? Ist das die wirklich bessere Demokratie? Nach dem Text der DDR-Verfassung war das eine Demokratie unter der Führung der Arbeiterklasse. Das heißt aber eben nicht „Gleichheit der Stimmen”. Was bedeutet dieses Privileg, zu sagen, dass jetzt die Mehrheit, also die Arbeiterklasse, das Sagen hat? Wer gehört dann zur Arbeiterklasse? Damit war die klassentheoretische Frage unmittelbar auch eine demokratietheoretische. Und damit war immer die Gefahr des Ausschlusses verbunden. Ich teile hier die Überlegung von Ernst Bloch, dass die parlamentarische Demokratie ein zivilisatorisches Niveau darstellt, eine bestimmte Art und Weise, wie wir uns in unserer Gesellschaft koordinieren. Und wenn, dann gehen wir darüber hinaus. Das bedeutet allerdings, dass man die Bedingungen klären muss; dass man so darüber hinausgeht, dass es tatsächlich 658819858 mehr Freiheit gibt. Rosa Luxemburg hat in ihrer Kritik der russischen Revolution eine Möglichkeit der offenen Diskussion unter allen um die weitere Entwicklung des Sozialismus eingefordert. Ansonsten entgleite sie in Autoritarismus.2 Das heißt natürlich auch, dass wir uns in diesem zivilisatorischen Niveau erst einmal einüben müssen. Die Form der politischen Demokratie ist neben der Kapitalform eine so mächtige Form, dass sich die Frage stellt, wie man mit diesem Herrschaftsverhältnis umgeht. Man kann natürlich einfach sagen, das sei nur Herrschaft. Damit wird man aber die Probleme nicht los, die darin stecken.

Inwieweit ist die Linke, nicht nur im Nachkriegsdeutschland, sondern auch in anderen Ländern, für ihren Niedergang selbst verantwortlich? Es gab verheerende Fehler im Westen sowie im Osten, wo die Nomenklatura das ganze Volkseinkommen quasi enteignet hat. Sind es daher nicht die Fehler der Linken, welche für ihre eigene Schwäche verantwortlich sind und Phänomene wie den Neoliberalismus entstehen lassen?

Alex Demirovic: Ich teile die Ansicht, dass die Schwäche der Linken in großem Maße auf Selbstverschulden zurückzuführen ist. Es gibt viele Analysen zu den Fehlentwicklungen der 20er und 30er Jahre, z.B. das wunderbare Buch zur Strategie der Komintern gegenüber dem Faschismus von Nicos Poulantzas3. Dort zeigt er, wie die ständigen strategischen und taktischen Schwenker der Komintern, der KPD und KPI verheerende Folgen für die Gesamtpolitik der damaligen Situation hatten. Gleichzeitig ist die Analyse der konkreten Situation immer wichtig. Darin wird deutlich – und das zähle ich zu einem Merkmal der Neuen Linken im Sinne Adornos –, dass wir uns selbst in unsere Analyse auch miteinbeziehen müssen. Dass wir die Dinge heute anders als gestern sehen, bedeutet nicht, dass wir es sind, die unsere Ansicht geändert haben, sondern dass die objektive Wirklichkeit sich geändert hat – das ist eine Masche, die auf der Linken sehr häufig vertreten wird. Die Schwierigkeit ist: Wie kann man im Wissen des möglichen Fehlers dennoch radikale Politik machen? Es ist nämlich auch eine Frage der Macht: Selbst wenn man noch so kluge taktische oder strategische Überlegungen anstellt – der Gegner macht das auch. Er hat viel mehr Mittel, noch klüger und noch strategischer zu sein, weil ihm zahlreiche Leute, Techniken und Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Was gelingt und was nicht gelingt, hängt stark von Konstellationen ab. Zur Machtunterworfenheit gehört, dass man es sich nicht aussuchen kann. Das schlimmste an der Erfahrung der Macht ist, dass die anderen eben mächtiger sind. Es ist eine Tautologie, aber eine zutiefst tragische, die ernst genommen werden muss. Man kommt nicht aus dieser Konstellation heraus, man kann es sich nicht aussuchen, auch wenn man zugibt, dass man Fehler gemacht hat.

Den Neoliberalismus gibt es schon seit den 30er Jahren. Aber in den 70er und 80er Jahren ist es einer ganzen Gruppe von Akteuren gelungen, viele Ideen der Neuen Linken aufzugreifen und in die Praxis von Unternehmen und staatlicher Politik einzusetzen. Das ist selbst eine Strategie: Es ist die Enthauptung der Linken. Sie nimmt ihr ihre Sprecher, ihre Positionen, ihre Inhalte und ihre Lebensformen. Sie werden angeeignet und dem Kapitalverhältnis oder ideologischen Prozessen untergeordnet. Insofern ist es eine fortgesetzte Machtauseinandersetzung, die wir in der Tat in den letzten Jahrzehnten nicht sehr erfolgreich bestritten haben. Letztlich wird man so etwas nur langfristig durch grundlegende gesellschaftliche Veränderung vermeiden können.

Ja, der Zusammenbruch des Ostblock ist zutiefst tragisch. Nicht nur die Oligarchen stellen ein Problem dar, sondern vor allem die vielen Tausende von Menschen, welche auf der Strecke geblieben sind. Was im Osten mit der Revolution geschehen ist, wiederholt sich heute in Ägypten: Für die Linke und ihre Transformationsperspektive ist das Hauptproblem, dass sich nach einer Revolution die Dinge verschlechtern können. Es gibt Bürgerkriege, Produktionsausfälle, Organisationsprobleme, Widerstände etc. Wenn wir das Problem der Revolution in dieser Hinsicht durchdenken, dann müssen wir uns klar machen, wie Revolutionsprozesse verlaufen. Ist es dann nicht sinnvoller, von einem bestimmten Rhythmus von Transformationsprozessen zu sprechen, um diese Prozesse sehr viel bewusster und klarer in den Blick nehmen? Insbesondere angesichts ihrer Folgen? Was viele von uns damals an Maos Kulturrevolution fasziniert hat, war ihr Versuch, diesen Prozess weiterzutreiben. Nach der Revolution ist nicht einfach Kommunismus, sondern es muss weiter etwas stattfinden. Wie kann man diesen Prozess als einen Transformationsprozess über viele Jahrzehnte denken? Wir müssen vom möglichen Erfolg her denken, denn wir haben immer wieder die Möglichkeit des Erfolgs: Revolutionen werden nicht intentional gemacht, sondern sie kommen einfach. Dann stellt sich die Frage, wie man mit diesem Erfolg umgeht, sodass man über vielleicht Jahrzehnte eine breite Unterstützung erfährt. Vertrauen der Bevölkerung denjenigen gegenüber, die für den revolutionären Prozess eintreten, ist wichtig. Doch die Linke hat nicht so viele Anhaltspunkte dafür gegeben, dass man ihr trauen kann: geringe Demokratiefähigkeit, taktische Wendigkeit, Opportunismus.

Stefan Eggerdinger: Auf dem XX. Parteitag der KPdSU ging es genau um die Frage, an der auch die DDR letztendlich gescheitert ist: Wie kann man einen revolutionären Prozess über Jahrzehnte fortführen?—Mao hat gesagt: Es wird mindestens 500 Jahre dauern; im Wissen, dass der Kapitalismus nicht nur am Widerstand oder Fortbestand von Kapitalisten restauriert werden kann, sondern dass gerade der Sozialismus als Übergangsgesellschaft aus sich selbst heraus die Gefahr hervorbringt, wieder den alten Weg zu gehen. Darauf hat die chinesische Revolution eine Antwort gegeben. Sie hat aber nicht vermocht diesen Prozess aufrechtzuerhalten – das ist ihr Problem. Im 20. Jahrhundert haben wir durch die Praxis von Revolutionen – durch nichts anderes!—gelernt, dass die Gefahr nicht vorbei ist. Ein sozialistisches Land darf nie als Selbstzweck verstanden werden, wie Chruschtschow es getan hat. Es muss immer Mittel und Stützpunkt für eine weltweite Revolution bleiben. Stattdessen wurde die Hauptaufgabe im Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion gesehen. Daher war die Generallinie seiner Außenpolitik die „friedliche Koexistenz”. Das hat uns empört und dagegen haben wir uns gewendet: Der proletarische Internationalismus, das ist etwas ganz anderes! Revolutionen haben uns gelehrt wie wir es besser machen können. Engels hat nach der gescheiterten Revolution von 1848 in Deutschland gesagt: Sind wir einmal geschlagen, so müssen wir wieder von vorne anfangen. In gewisser Weise fangen wir heute wieder von vorne an. Aber das ist eine praktische Frage.

Detlef zum Winkel: Ja, der 20. Parteitag und die Rolle Chruschtschows wurden von vielen Linken so aufgefasst, dass sich die KPdSU von der Revolution und dem revolutionären Anspruch verabschiedet, sich angepasst und eine friedliche Koexistenz angestrebt hat. Das ist sofort kritisiert worden, unter anderem von China, die sich vor dem Vorwurf des Trotzkismus schützen wollten und sich deshalb ausgerechnet auf Stalin berufen haben. Aber die Dinge sind vielleicht nicht ganz so komplex, wie sie dargestellt werden. Chruschtschow hat seine berühmte Rede gehalten, die hauptsächlich in westlichen Ländern erschienen ist und dort nachgelesen werden konnte. Diese Rede ist sehr erstaunlich: Er geht in einer weitgehenden Offenheit mit der Situation in der Sowjetunion, dem Erbe Stalins und dem Stalinismus um – zumindest, wenn man die innerparteiliche Terminologie dechiffrieren kann, die ja zum Teil eine Geheimsprache ist. Dennoch hat er eine für die Verhältnisse kommunistischer Parteien sensationelle und spannende Rede gehalten. Egal ob man mit ihm übereinstimmt: Hier hat jemand auf Fakten, auf Beschlüsse etc. verwiesen. Aber sie wurde in den sozialistischen Ländern nicht veröffentlicht oder stand nur Eingeweihten zur Verfügung, weshalb sie dort nicht zu einer wirklichen Debatte geführt hat. Diese Prozesse sind abgeschirmt abgelaufen und man hat 40 Jahre lang diese Scheinwelt von Zwang und Zensur aufrechterhalten. Dort hatte man alle Nachteile zu erleiden, die es mit sich bringen, dass die Demokratie nicht zugelassen wird.

Ein wesentliches Element der Neuen Linken war die Entdeckung der soziokulturellen Ebene: der Versuch der Selbstveränderung, der Frage nach Identität und neuen Formen von Subjektivität. Veränderung wurde über neue Handlungsmodelle versucht, über die Entwicklung neuer sozialer Formen. Daraus haben sich die „Neuen sozialen Bewegungen” entwickelt, welche auch von der Arbeiterklasse Abstand genommen haben. Warum wurde die Frage des Alltags und der Kultur so wichtig?

DzW: Von konservativen und bürgerlichen Medien wird tatsächlich gesagt, dass der einzige Sieg der Neuen Linken in der Abschaffung der Atomenergie liegt. Daher kann man doch nicht sagen, dass politisch alles wirkungslos war, sondern man muss umgekehrt fragen, warum gerade an der Stelle, an der sich in dem ganzen Marxismusstudium und der neuen Rezeption klassischer Schriften der traditionellen Arbeiterbewegung nichts findet, ein Erfolg möglich war. Deshalb denke ich, dass wir nicht nur in verdummender und dogmatischer Weise einen Aufguss des marxistischen ABC rezipiert haben, sondern uns gelegentlich auch mit aktuellen, großen ökonomischen, sozialen und ökologischen Veränderungen auseinandergesetzt haben (Stichwort: Ökosozialismus). Wir haben erkannt, dass diese Art der Energieversorgung für die Produktivkraftentwicklung auch aus marxistischer Sicht eine wichtige wissenschaftliche Frage ist.

Alex Demirovic: Ich fühle mich ein bisschen missverstanden. Die meisten von uns diskutieren auf der Grundlage der Vorstellung, dass das Ziel die Überwindung der Lohnarbeit ist. Die Form der Lohnarbeit ist eines der zentralen Prinzipien, die unsere Gesellschaft bestimmen, und es geht darum, dieses Prinzip zu überwinden. Es geht nicht um die Herstellung einer wirklichen Arbeiterklasse, es geht nicht darum, dass die Gesellschaft durch die Arbeiterklasse geprägt ist, wie viele Leute in der Geschichte der kommunistischen und sozialistischen Bewegung geglaubt haben. Es geht um das Ziel, diese Lebensform der Lohnarbeit und damit, wenn man Marx folgt, überhaupt diese Art gesellschaftlicher Arbeitsteilung von Klassen weltgeschichtlich zu überwinden. Die Geschichte des Sozialismus ist, wie im Kommunistischen Manifest beschrieben, ein Prozess der permanenten Selbstrevolutionierung. Die kapitalistischen Verhältnisse sind Verhältnisse, die nicht stabil bleiben, sondern das, was stabil bleibt, ist die Logik dieser permanenten Selbstveränderung. Im Prozess dieser Selbstrevolutionierung gibt es verschiedene Phasen dieser gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse. Ich möchte im Anschluss an die Kritische Theorie einen entscheidenden Punkt ausführen, der eine wichtige Überlegung der Neuen Linken war.

Wenn wir die Arbeiterbewegung betrachten, müssen wir auch darüber nachdenken, wie sie in den konkreten historischen Konflikten wirkt. Die Art und Weise, wie die Menschen darin handeln, wie sie sich engagieren, wie sie kämpfen, wie sie ihren Alltag gestalten, ist Teil dieses Prozesses. Dementsprechend war die Frage der Subjektivität und der kulturellen Form ein wirklicher Erkenntnisfortschritt. Um ein Beispiel zu nennen: Wird der Streik nur im Betrieb entschieden oder nicht auch durch die Frauen in der Wohnkaserne? Das ist nämlich, wie die Frauenforschung zeigen konnte, ein ganz elementarer Bestandteil des Kampfes. Es geht mir also um die Alltagspraktiken der Gesamtkonstellation: nicht um eine idealisierte Arbeiterklasse, sondern den gesamten Lebenszusammenhang von Lohnabhängigen. Wie leben sie im Alltag? Was bindet Leute an Herrschaftsverhältnisse, auch wenn es ihnen schlecht geht? Sie machen Dinge, die gar nicht unbedingt ihrem unmittelbaren Interesse entsprechen. Darum spielen diese kulturellen und subjektiven Anteile eine bedeutende Rolle. Es um die Emanzipation aller Verhältnisse, unter denen Menschen geknechtet sind. Hier stellt sich die Frage: Gelingt es der Herrschaft auch, sich bestimmte Teile dieses emanzipatorischen Prozesses anzueignen? Sollen die Herrschenden die Leistungssysteme ändern, höhere Löhne und mehr Urlaubszeiten geben, oder sollen sie die Arbeit sinnhafter ausgestalten, also durch bessere Ausbildung, Qualitätszirkel und mehr Selbstbestimmung? Das wurde dann in neue betriebliche Strategien, also flache Hierarchien, Qualitätszirkel usw. umgesetzt. Entwertet das jetzt unsere Erkenntnisse? Das glaube ich nicht. Ich denke aber, dass wir die Geschichte unserer praktischen Erfahrungen, die ja Teil unserer Theoriebildung geworden ist, immer wieder neu durchdenken müssen. Wir müssen immer genau überlegen, wie solche Praktiken in bestimmten Situationen immer wieder reorganisiert werden, weil die Akteure auf der Gegenseite, auf der Kapitalseite sehr viel damit experimentieren, wie sie Herrschaft reorganisieren und reproduzieren können. Das ist eine der Hauptleistungen von Herrschenden: dass sie ihre Herrschaftsverhältnisse aufrechterhalten und versuchen, sich Begriffe anzueignen. Wir müssen Traditionen, die uns immer wieder enteignet werden, in ihrer ganzen Komplexität wieder aneignen und in praktischen Auseinandersetzungen weiterentwickeln.

Ich finde es also ganz richtig, dass Detlef auf die ökosozialistische Diskussion, die dann in den 70er Jahren stattfand, hingewiesen hat. Das war wirklich ein großer Schritt der linken Debatte der letzten 150 Jahre, aber das gilt natürlich auch für die ganze Frage der Geschlechterverhältnisse. Es geht jedoch nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen, sondern genau diese Zusammenhänge zu denken. Das ist die große Aufgabe jeder kritischen Theoriebildung, die in Anschluss an Marx stattfindet.

Wie hat sich die antiautoritäre Lehre, die man ja im Vorfeld der ‘68er-Bewegung aus der Reflexion über den Faschismus in Deutschland gezogen hat, im Zuge von ‘68 gewandelt? Inwieweit ist der antiautoritäre Charakter mit dem marxistischen Ziel der Linken, der Diktatur des Proletariats, vereinbar bzw. steht ihm im Wege?

Alex Demirovic: Das Problem des antiautoritären Charakters der Neuen Linken hat viele Aspekte. Dem Konzept lag die Vorstellung zugrunde, dass es – jedoch grundlegend anders als in der von Bernstein bis Stalin reichenden Analyse, wo es feststehende, „dialektische” Gesetzmäßigkeiten gibt, die man einfach erkennen und dann mehr oder weniger klug nutzen konnte – Gesetze gibt, die die Gesellschaft bestimmen. An dieser Stelle war es für die Kritische Theorie bedeutungsvoll zu sagen, dass diese Gesetzmäßigkeiten von Menschen gemacht sind und sich historisch verändern. Das heißt, wenn wir handeln, handeln wir nicht, weil wir die ewigen Gesetze der Geschichte hinter uns haben, sondern wir handeln in Verantwortung für die Tatsache, dass wir die Geschichte selbst machen. Das bedeutet, dass wir aus der Geschichte oder aus ihrer Entwicklung keinen autoritären Befehl ziehen. Das war ja ein Teil des Selbstverständnisses der kommunistischen Bewegung: dass wir mit der Geschichte selbst gehen, und dass wir auf jeden Fall die Geschichte auf unserer Seite haben; aber jede Person, die verliert, jede Person, die in diesen Konflikten Leid erfährt, geht dabei unter.

Das heißt auch, sich vor der Geschichte selbst in ein neues Verhältnis zu setzen und zu sehen, dass ich an dem, was ich in diesem historischen Prozess tue, auch selbst beteiligt bin; dass ich es nicht einfach immer nur auf andere schieben kann. Insofern war die Frage nach den selbstverschuldeten Niederlagen eine, die wir uns auch gestellt haben. Der bedeutende Aufsatz von Althusser4 aus dem Jahr 1977 spielte da eine große Rolle: Endlich befreit sich etwas aus der Krise des Marxismus! Dies bedeutete aber gleichzeitig, dass unsere Begriffe für die neue Entwicklung nichts mehr taugten.

Wir müssen neu über diese Begriffe, mit denen wir so selbstverständlich hantieren, nachdenken, und dazu gehört natürlich auch die Diktatur des Proletariats. Marx hat diesen schwierigen Begriff ja als eine seiner wesentlichen Entdeckungen bezeichnet.5 Auch in der Analyse der Pariser Kommune bezieht er sich auf diese begriffliche Konstellation: da spricht er davon, dass er das allgemeine gleiche Wahlrecht verallgemeinern und auf alle gesellschaftlichen Funktionen, also Schulen, Verwaltung, Polizei usw. ausdehnen will, also auf alle Lebensbereiche. Das weicht natürlich in vielerlei Hinsicht von dem ab, wie dieser Begriff dann auch über lange Perioden verstanden wurde, nämlich als Diktatur einer Partei.

Stefan Eggerdinger: Wir haben damals nicht nur Marx und Engels gelesen. Wir haben Trotzki gelesen, wir haben Luxemburg gelesen. Und wir haben auf der Basis dieser Lektüre angefangen, uns für politische Organisationsformen zu interessieren. Wie ließ sich eine gewisse antiautoritäre Tradition, aus der man ja kam, mit der Vorstellung eines organisierten Vorgehens vereinbaren? Das ist natürlich ein Widerspruch. Es ist ein täglicher Widerspruch, den man nicht einfach aufheben kann. Organisiert sein heißt, den Widerspruch auszuhalten und zu gestalten zwischen mir und dem, was die Organisation braucht und tut. Es ist einer, der sich jeden Tag neu stellt, neu gelöst werden muss und dem man nicht entfliehen kann. Aber ohne Organisation kannst du nichts verändern.

Es ist vorhin gesagt worden: Aufhebung des Lohnsystems und der Lohnarbeit. Die Lohnarbeit wird nicht dadurch aufgehoben, dass eine bestimmte Klasse beschließt sie aufzuheben. Die Lohnarbeit wird historisch dadurch aufgehoben, dass sie als eine zeitweilige Form versagt, die gesellschaftliche Arbeit zu verteilen. Wir werden gerade Zeuge dessen: Wer hebt denn vor unser aller Augen die Lohnarbeit auf? Es ist das Kapital. Das Kapital hebt das Normal-Lohnarbeitsverhältnis durch Leiharbeit, durch prekäre Arbeitsverhältnisse usw. auf. Das Kapital weiß, dass es mit dem freien Lohnarbeiter, der entscheiden kann, wohin er seine Arbeitskraft verkauft, in seinen Endzeiten und in Vorkriegszeiten nicht mehr auskommen kann und dass es Zwang braucht; dass es bis hin zur faschistischen Zwangsarbeit kommen muss, um das System der Ausbeutung zu retten. Es ist nicht nur die Arbeiterklasse, die diese kapitalistischen Formen angreift, es ist sogar die Kapitalistenklasse, die sie im Kampf um ihr eigenes Überleben angreift. Und deswegen gibt es diese alte Losung von Rosa Luxemburg: Sozialismus oder Untergang in der Barbarei! Es heißt nicht: Sozialismus oder Kapitalismus! Warum? Weil entweder der Sozialismus erkämpft wird oder aber der Kapitalismus immer barbarischer wird. Vor dieser Situation stehen wir gerade.

Was wir zu lösen haben, ist folgende Frage: Wie organisieren wir eine Arbeiterklasse, die im Moment nicht kämpft? Wir organisieren sie nicht in erster Linie, indem wir an ihr gewerkschaftliches Bewusstsein appellieren. Wir organisieren sie, indem wir genau diese Gedanken, über die wir heute den ganzen Abend diskutiert haben, versuchen wieder in revolutionären Betriebszirkeln zu verorten. Das ist die mühselige Kleinarbeit, die heute getan werden muss.

Detlef zum Winkel: Zum Antiautoritären: Man sollte 1968ff. nicht überschätzen. Das war eine Aufbruchbewegung, und wer an einer Aufbruchbewegung teilnimmt, der verhält sich emanzipiert. Da alle Strukturen offen waren, hatte man mit antiautoritären und emanzipierten Umgangsformen Erfolg, den man sehr genoss. Als Teilnehmer einer solchen aufstrebenden Bewegung neigt man dazu, sich selbst und seine Mitstreiter zu überschätzen. Sobald diese Bewegung – mitunter auch recht kläglich – geendet hat, behält man doch diese Euphorie im Gedächtnis und erzählt später, wie toll das gewesen ist. Diese antiautoritäre Phase war dann (nicht nur bei den K-Gruppen) rückläufig. Für mich ist es eine erstaunliche Erfahrung gewesen, als ich von Hamburg nach Frankfurt gekommen bin und hier die Spontis erlebt habe. Dort konnte ich mich davon überzeugen, dass es auch und gerade in diesen Kreisen Hierarchien, informelle Machtstrukturen, ein äußerstes Feingefühl, was man sagen bzw. nicht sagen darf, und autoritäre Fixierung auf wenige Personen gab, kulminiert in der Person von Joschka Fischer.

Das war eine bestimmte Phase, eine bestimmte Blütezeit, in der man tolle Erfahrungen gemacht hat, aber gerade diejenigen, die das Antiautoritäre nachher für sich gepachtet hatten, waren später autoritär und hierarchisch. Diese Dinge galten dann bei den Spontis und wurden direkt in die Grünen übernommen. Was bei den Grünen nicht erst heute, sondern sicher schon in den 80er Jahren an Machtstrukturen, Hörigkeiten und Abhängigkeiten aufgebaut worden ist, das spottet jeder Beschreibung. Trotzdem ist es natürlich eine wesentliche Erfahrung gewesen, und es ist wichtig, die Erinnerung daran aufrechtzuerhalten.

Um auf den Kern der Frage zu kommen: Welche Chance hat das in der Diktatur des Proletariats? Da müssen wir uns doch wirklich mal zu der klaren Antwort durchringen: Null Chancen! Keine Chance. Mit der Diktatur des Proletariats sollten wir wirklich aufhören. Dieser Begriff hat einen Platz innerhalb eines bestimmten Theoriegebäudes, das heute noch interessant ist und in vielerlei Hinsicht eine zutreffende Analyse bietet, die man aktualisieren und erweitern kann. Aus dieser Analyse hat Marx extrapoliert, wie die künftige sozialistische Gesellschaft aussehen könnte und hat ihr den Namen Diktatur des Proletariats gegeben. Das hat in jeder Hinsicht nur zu katastrophalen Ergebnissen geführt, und dieses Programm werden wir uns ja wohl nicht allen Ernstes noch mal aneignen – das ist passé. Wer unter dieser Parole antritt, der kann nicht damit rechnen, irgendwie aus der marginalen Sektenexistenz herauszukommen, und das ist gut so. Nur weil das so ist, werden wir irgendwann mal einen Fortschritt erzielen, das hoffe ich wenigstens. | P


  1. Karl Marx: Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844). MEW 1, S. 385.
  2. Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution (1918). In: GS 4, Berlin 1974, S. 332–362.
  3. Nicos Poulantzas: Fascism and Dictatorship: The Third International and the Problem of Fascism. London/New York 1974.
  4. Vermutlich: Louis Althusser (Hg.): Ideologie und ideologische Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg/Berlin 1977.
  5. Karl Marx: Brief an Weydemeyer (1852). MEW 28, S. 507f.

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