Ernst Bloch und die Frankfurter Schule
Ein Gespräch mit Nicolas Schliessler-Jaramillo
Die philosophischen und politischen Ansichten von Ernst Bloch (1885–1977), von Georg Lukács (1885–1971) und von Theoretikern der Frankfurter Schule beeinflussten die intellektuelle Diskussion der Nachkriegszeit maßgeblich. Sie begegneten sich in der Öffentlichkeit nicht selten als Kontrahenten. Darüber wird heute vergessen, dass all diese Denker in den 1920er Jahren persönliche Beziehungen pflegten und sich aus einem gemeinsamen Geist heraus mit den Problemen der Zeit auseinandersetzten, die durch das Scheitern der sozialistischen Revolutionen in Europa, die „Stalinisierung” der Sowjetunion und die faschistische sowie nationalsozialistische Bewegung geprägt waren. Da sich im Laufe der Zeit die Uneinigkeiten zwischen diesen Denkern verstärkten und sich ihre Lebenswege deshalb zunehmend trennten, wäre eine Rückbesinnung auf den gemeinsamen Ausgangspunkt ihres Denkens notwendig, um ihr politisches Problembewusstsein und ihren utopischen Horizont wieder für die Gegenwart fruchtbar zu machen.
Denn angesichts einer heute um sich greifenden Regression des politischen Bewusstseins, scheint auch das Verständnis für die gemeinsame Basis dieser Denker in Mitleidenschaft gezogen zu werden.
Aus diesem Interesse heraus entstanden folgende Fragen an Burghart Schmidt (Jg. 1942), der von 1968 bis 1977 als wissenschaftlicher Mitarbeiter Ernst Blochs bei der Herausgabe seiner Gesammelten Werke tätig war. Er war Präsident der Ernst-Bloch-Gesellschaft (1986–2006) und Professor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach/Main (1998–2011).
*Nicolas Schliessler-Jaramillo: Ernst Bloch und Walter Benjamin begegneten sich 1918 in Basel. Im gleichen Jahr erscheint Blochs „Geist der Utopie”, ein Buch, das auch Theodor W. Adorno tief beeindruckt. Wie lässt sich der Einfluss dieses Buches auf die politische Ideenentwicklung der beiden Theoretiker charakterisieren? Welche Bedeutung hat die Kategorie der Utopie für den Marxismus im Zeitraum 1918–1939?*
Burghart Schmidt: Adorno hat öfter davon gesprochen, dass sein Studium von Blochs „Geists der Utopie” (1918) das eigene Werk motiviert und nachhaltig geprägt habe. Damit hatte er Blochs Umwertung des Utopiebegriffs vor Augen, der aus einer spezifischen, sehr wissenschaftsbezogenen Literaturgattung eine Denkhaltung gemacht hat. Bloch stand sicher unter dem Einfluss von Gustav Landauers Revolutionsschrift, die Geschichte als eine Dialektik von utopischem und topischem Denken versteht.1 So dringt der utopische Zug auch in die Erkenntnistheorie und die Ontologie, also in jene Lehre, die gerade stets ahistorisch und nichtprozessual hatte sein wollen. Bloch transformiert sie, die Ontologie, im Namen des Geists der Utopie zu einer prozessualen Ontologie des „Noch-nicht-Seins”, gerichtet auf ein offenes System. Denn Bloch hat die Utopie dermaßen zu einer allgemeinen Denkhaltung umformuliert, dass er Denken überhaupt durch Überschreiten charakterisiert. Denken heißt oder ist Überschreiten, gelehrt lateinisch Transzendieren. Dem fügt Bloch allerdings seit „Geist der Utopie” hinzu, was für Adorno besonders wichtig war: dass es um ein Transzendieren ohne Transzendenz ginge, weil in der Transzendenz das Transzendieren seine Prozessualität verlöre.
Das ist es nun, dem das ganze Werk Adornos sich verpflichtet fühlte, was Bloch später in „Prinzip Hoffnung” (1938–47) etwas ernüchternd statt „Geist der Utopie” die „utopische Funktion” nannte. Es ist aber festzuhalten, dass die Einflüsse von Bloch auf Adorno und auch Benjamin nur von seinem Frühwerk ausgingen. Bis in die 30er Jahre lagen als Bücher schließlich außer dem „Geist der Utopie” nur der „Thomas Münzer” (1921) und die „Spuren” (1930) vor, neben ungewöhnlich zahlreichen Aufsätzen in Zeitungen und wissenschaftlichen Magazinen. In der Emigration in Zürich kam dann noch „Erbschaft dieser Zeit” (1934/35) heraus. Dem Buch hat Benjamin umfänglich, aber unberechtigterweise vorgeworfen, dass es zu spät gekommen sei.2 Unberechtigt war der Vorwurf, weil sehr Vieles aus diesem Buch schon in Aufsatzform – auch in Tageszeitungen – rechtzeitig zuvor erschienen war. Doch leider blieben die Aufsätze geschichtlich wirkungslos.
Adorno stellte sich den „Geist der Utopie” schon im Charakter der utopischen Funktion vor, noch bevor bei Bloch diese ernüchternde Formulierungsweise auffällig wurde. Adorno sah diese utopische Funktion in nichts, was die Menschheit hervorgebracht habe, gewährleistet, sondern immer verraten. Allein die Kritik halte dem Utopischen die Treue, indem sie voraussetzte, dass das von ihr der Kritik Unterworfene veränderbar sei. Daher auch der andere Name der Frankfurter Schule: „Kritische Theorie”. Demnach gibt es für Adorno in der Kulturgeschichte kein utopisches Vorkommen, welches doch für Bloch sein wichtigstes Arbeitsgebiet ausmacht. Für Adorno ist Alles falsches Leben. Bloch dagegen fühlt sich Kants Auftrag für die Geschichtsdarstellung verpflichtet, in der der Geschichtsbericht das irgendwie Gelungene oder nicht ganz Falsche hervorzuheben habe, um so die Motivation zu stärken, für das Gelingbare zu kämpfen.3
Das ganze Werk von Bloch dient dem unnachlasslichen Fahnden nach dem irgendwie in der Kulturgeschichte Gelungenen, und zwar auch über Europa hinaus, in arabischer Philosophie oder dem Buddhismus, im Hinduismus und chinesischen Weisheitstraditionen. Immerhin muss aus solcher Sicht das Verabsolutieren der Kritik gerade im Namen der Utopie einem wie Pessimismus oder Fatalismus vorkommen, was Bloch eben der Frankfurter Schule nachsagte, obwohl er die Skepsis Adornos miteinbezog und berücksichtigte. Denn was die Fahndung nach utopischem Vorkommen aufzugreifen vermag, das darf sie nie so nehmen, wie sie es vorfindet. Das utopische Vorkommen tritt nie als das reine Erz auf, sondern ist durchsetzt mit oder eingewunden in Ideologie. Und diese muss durch ätzende Kritik herausgesogen werden – oder anders herum, Utopie muss herausgesogen werden.
Adorno nun wiederum ist dem Bloch’schen wohl am stärksten auf erkenntnistheoretischer Ebene entgegengekommen. Es geht um seine Überlegungen in der Einleitung zum „Autoritären Charakter”. Er ergreift da zunächst Partei für Max Webers Orientieren am Entwickeln von Idealtypen gegenüber dem empirischen Material. Weber weist aber der Forschung die Doppelaufgabe zu, einerseits möglichst den entwickelten Idealtypus im empirischen Material zu bestätigen, also zu erhärten, oder andererseits ihn aus dem empirischen Material heraus zu widerlegen. Dazwischen befinden sich dann die Abwandlungen des Idealtypus. Adorno aber fordert von der Forschung, nach Gewinn eines mehr oder weniger bewährten Idealtypus, all das von ihm her zu ermitteln und ins Bewusstsein zu rücken, was nicht unter seinen Hut passt. Da haben wir es, Adorno hat eine Forschungsansicht, nach der im Zentrum das Andere steht, das mit dem Gegebenen nicht in Eins klingt. Dieses Andere, dieses ganz Andere, sei der Sinn der Wahrheitssuche. Dabei greifen wir das Bloch’sche Diktum „Denken heißt Überschreiten” mit allen Sinnen auf und darin Adornos Meinung, alle Erkenntnis müsse von diesem ganz Anderen her durchleuchtet sein.
Das Utopische tritt uns in der Kunst sinnlich entgegen. Welches Verhältnis herrscht zwischen Bloch und Adorno im Bereich der Kunsttheorie?
Etwas weniger reduktiv verhält es sich mit dem Utopischen bei Adorno auf den Feldern der Künste. Hier kommt er Bloch um Einiges näher. Ja, in einer Ansicht kommt er mit Bloch ganz überein: die Musik sei die utopischste der Künste. Die andere Stellung der Künste ergibt sich aus einer Dialektik von fait social und Autonomie innerhalb ihrer Produktion. Diese macht auch die Struktur des Arbeitsfelds von Kritischer Theorie und ihren Chancen zur Wahrheit aus. Künstler wie Kritische Theoretiker sind in den sozialen Gegebenheiten eingefangen. Aber bei entsprechender Arbeitsausrichtung produzieren diese sozialen Gegebenheiten selber die Möglichkeiten zur Autonomie. Um diese Möglichkeiten muss in einem Kampf gegen das Eingefangen-Sein in den Netzen der sozialen Gegebenheiten und ihren Zwängen gerungen werden. Dann bewährt sich im Produzieren von Kunst wie von Kritischer Theorie ein Moment von Unabhängigkeit und Freiheit von Zwang. Aber sobald etwas entsteht, das sich an andere vermittelt, setzt wieder die Verwicklung in soziale Gegebenheiten ein. Solches meint die Wirkungsgeschichte.
Allerdings vermag seinerseits das im Moment der Autonomie Gewonnene auf die Zwänge der sozialen Netze eventuell verändernd einzuwirken. Was für den Produzenten von Kunst oder Kritischer Theorie hier an Dialektik gilt, gilt auch für den Kunst oder Kritische Theorie angemessen Auffassenden. Stark ist aber das Bemühen der gesellschaftlichen Gegebenheit, die Momente flüchtiger Autonomie wieder auszulöschen, und sei es durch die Herabsetzung zum Mittel der Propaganda für ihre angeblichen eigenen Freiheitsangebote. Diese Rückkehr der Autonomie ins fait social hat stets das Übergewicht auf ihrer Seite.
Die Auseinandersetzung mit Adorno löste daher die Debatte um das Vereinnahmen von Kunst und Kritik durch die Herrschaftsinteressen des Gesellschaftlichen aus. Leider wurde Adorno darin missverstanden, als ginge es nämlich einzig um das Verhindern von Vereinnahmung, gar Vereinnehmbarkeit, und als wäre dies das entscheidende Wertungskriterium von Kunst und Kritik. Die Vereinnahmung sei gar nicht zu verhindern, das meinte Adorno. Wichtig wäre es, die Autonomiechancen zu nutzen, die immer wieder durch die sozialen Gegebenheiten hervorgebracht werden. Sich gegen das Gegebene immer wieder zu aktivieren; das heißt, sich den Autonomiechancen mit Nachhaltigkeit, Zähigkeit, sprich Unnachlasslichkeit zu widmen; Maulwurf sous la terre, der nicht aufhört, Gänge zu bohren entgegen dem dauernden Erfahren von Sackgassen.
Ein wenig empfindet man, bei Kenntnisnahme dessen, von der Atmosphäre um Sartres Spruch, die Freiheit sei nur am Tag oder im Akt der Befreiung da. Das Befreiende aber findet sich nach Adorno in der Technik des Hervorbringens, nicht in den Gehalten. Was geschichtliche Entwicklung angeht, hat er die zentrale Rolle der Technik auch für die Künste von Benjamin übernommen. Doch Benjamin meinte zunächst von Bildguss und Bilddruck wie Textdruck bis zu Photographie und Film die Alltagstechnik des Produzierens, während Adorno die Techniken für das hermeneutische Wissen, die Symbol- und Metapherndeutung im Auge hat. Von den Neuerungen des Alltagstechnischen mit Photographie und Film erwartete er sich eher ein Mindern der Autonomiechancen, während hier für Benjamin die Veränderungsschübe sich zur Zukunft hin ereigneten.
Doch dann lagert sich auch für Benjamin das Technische für das hermeneutische Wissen, die Symbol-, Metaphern- und Allegoriedeutung an. Man denke an seinen für ihn so wichtigen Essay „Der Autor als Produzent”, worin er zu den Produktionsmitteln des Literaturkünstlers dessen Sprachkompetenzen zählt. Das bedeutet allgemein für den Künstler: es geht um seine Kompetenzen in sämtlichen Zügen der Techniken von Bildproduktion, Gestaltungsproduktion bis in tiefste Vergangenheiten hinein. Das geht weit über die Maschinisierungstechniken von Photographie und Film hinaus. Aber es liegen für Benjamin in den Neuerungen von Photographie und Film große Potentiale des Befreienden, die er auch in den neuen Medientechniken von heute gesehen hätte. Allerdings ist für ihn wie für Adorno festzuhalten, dass die von ihnen gemeinte zentrale Bedeutung der Techniken in der erneuernden Veränderung der Techniken liegt. Die Innovationskategorie wird für sie das Wichtigste im Beurteilen von Kunst und Kritik. Für Adorno aber ist die Innovation der Technikbruch, der aus der Verstrickung ins Gegebene befreit. Auch wenn die Innovation in die Verstrickung zurückkehrt, wird von ihr ausgegangen, weil sie eine Möglichkeit von Veränderung in sich trägt – mag sein, kleinster Grade. Der Kitsch aber gäbe Innovation vor, erwecke deren Schein, sei aber zugleich wesentlich ohne jede Innovation.
Darin liegt das Vertrackte, dass, wer sich mit einem Kunstwerk in einem Grad vertraut mache, der ihm erlaube, das Kunstwerk in seinem Vorstellen anstandslos zu reproduzieren, dem sei dieses Kunstwerk aus Kunst in Kitsch umgeschlagen. Unter dem Schein von Innovation tritt keine Innovation mehr heraus, vielmehr nur Redundanz. Und umgekehrt würde dem schwächst Informierten aller Kitsch zu Kunst im ehrlichen Sinn, weil gegenüber seinem Unwissen noch allemal innovativ genug, rein subjektive Abhängigkeit von Kunstqualität.
Innovation bleibt eine ganz wichtige Kategorie des Produzierens von Kunst und des Umgangs mit Kunst. Wir kommen nicht an ihr vorbei. Adorno sah aber das Anmelden von Autonomie per Innovation in der Wirkungsgeschichte der Kunst- und Kritikprodukte verstanden, während Bloch das Utopische weiterhin auch in den Gehalten der Kunstwerke und Theorielehren witterte, nicht nur in der Technik. Doch traute er auch diesen utopischen Gehalten nicht ganz über den Weg. Er war kein naiver, abstandsloser Zukunftsbildner. Er stellte eben die Zukunftsbildnerei schärfst unter nachhaltigem Ideologieverdacht, wie er nachhaltigen Utopieverdacht gegen alle Ideologie hegte. So viel von der Skepsis der Kritischen Theorie regt sich bei Bloch. Alle Zukunftsbildnerei befindet sich nur in schwierigen, prekären Annäherungsverhältnissen.
Benjamin geht wesentlich negativer vor als Bloch. Er rückt die Last der Vergangenheit in das Zentrum seiner Geschichtsphilosophie.
Benjamin sieht das utopische Hauptanliegen einer zukünftigen Menschheit im Erinnern der Toten und ihrer Folterqualen, des Quälens und Mordens, durch das die Menschen bisher ihre Geschichte machten. Es geht einer solch utopischen Perspektive um den Engel der Geschichte aus den geschichtsphilosophischen Thesen. Er wird mit dem Rücken zur Zukunft vom Sturm aus dem Paradiese her durch die Zeiten getrieben und sieht vor sich die Trümmerberge der Geschichte.4 Das Sich-Verwandeln der Menschen in solche Engel, so wird nahegelegt, wäre eine Sühne für den unermesslichen Schuldzusammenhang, den man Geschichte nennt.
Adorno hat zwar gehöhnt, durch alles Erinnern würden die Toten nicht auferstehen, und ihre Qualen, unter denen sie zugrunde gerichtet wurden, wären nicht aufgehoben. Aber das hat Benjamin mit der Sühne auch gar nicht gemeint. Auf jeden Fall trägt er durch die bedeutete Perspektive das Janusköpfige in das Utopische hinein. Ja, man könnte sagen, da gäbe es den Januskopf, der nach der einen Seite Benjamin und nach der anderen Seite Bloch erblicken lässt, Retten der Vergangenheit und Retten der Zukunft. Wobei man das Benjamin’sche Retten der Vergangenheit nicht mit Blochs „Zukunft in der Vergangenheit” verwechseln darf. Denn unter letzterem Leitbegriff suchte Bloch in der Vergangenheit nach den Vorgriffen auf die Zukunft, und nicht nach dem Leiden und Grauen der Geschichtlichkeit.
Bloch geht über das Benjamin’sche hinaus. Sein Utopisches im falschen Leben zeigt mehr als Spuren und Einsatzstellen, sonst könnte es schließlich so etwas wie „Zukunft in der Vergangenheit” nicht geben. Allerdings seien, so viel räumt er dem Misstrauen Adornos ein, höchste Transformationen des Vergangenheitsbestands für die Zukunft vonnöten, weil kein Gedanke, keine Gestaltung, ja keine Ahnung von ihren gegebenen Zeitzuständen unbeeinflusst seien.
Im „Geist der Utopie” entwickelte Bloch, noch vor dem Existenzialismus, eine im Kern existenzialistische Fragestellung: Utopie entspringt dem Sich-in-Existenz-Verstehenden. Die Durchdringung des Dunkels wird im gerade gelebten Augenblick möglich und ereignet sich in flüchtigen Überfallsmomenten. Selbstverständlich hat Bloch sein zentrales Utopikon selbst in fernsten Horizonten nicht absolut genommen. Absolut würde es das Überleben und Sich-Selbstbehaupten auslöschen. Aber man sollte einen großen Teil der Lebenszeit dem widmen können. Das Gleiche gilt für Benjamins Erinnern der quälenden Trümmerfeldgeschichte: dass Überleben und Sich-Behaupten Alles überwuchert und verdrängt, besonders quälendes Erinnern und Durchleuchten vom Dunkel des gerade gelebten Augenblicks. Solches lässt theologische Hintergründe ahnen: bei Benjamin die unbeschreibliche, unnennbare Entsühnung, bei Bloch die Seligkeit unbeschreiblichen, unnennbaren Glücks. Bei Adorno wäre dies das ganz Andere, freilich so unbestimmt, dass selbst Entsühnung und Seligkeit hineinpassten oder noch zu viel an Bestimmung wären. Wenn man aber aufs Gesagte bezogen von Theologischem reden möchte, so würde es sich um eine Theologie handeln, die in einem Transzendieren ohne Transzendenz passiert, nicht um der Transzendenz willen.
Entscheidend also ist der Unterschied zwischen Adorno und Bloch in ihrer Einschätzung der Vergangenheit. Für Adorno gehört das Alles zum falschen Leben, mit Ausnahme jener Möglichkeiten oder Chancen zur Autonomie in Theoriebildung und insbesondere in der Produktion von Kunst für Gegenzüge zum Gegebenen, wo sie auch immer wieder unternommen wurden. Bloch dagegen spürt auch viel fast Gelungenes und im Vorgriff Gelingbares in der Vergangenheit auf. Er nennt das „Zukunft in der Vergangenheit”. Denn so sehr er Zukunft an die Kategorie des Neuen, an die Innovation bindet, was ja in höchster Angestrengtheit sich Adornos mystischer Kategorie des ganz Anderen nähert, so sehr sieht er Zukunft auch als Erfüllerin und Vollenderin des nur fast Gelungenen und Versprochenen aus der Vergangenheit: Das Neue sei nie so ganz neu, lautet eine seiner Sentenzen.
Ihre Einführung zu Walter Benjamin endet mit folgender Reflexion zum Verhältnis von Mitteln zu Zwecken bzw. politischer Organisation und Utopie der Linken. Könnten Sie den Sinn dieser Stelle ausführlicher erläutern?
„Es gibt zwar kein wahres Leben im falschen (Adorno), aber der Vorgriff aufs Wahre darf im Falschen nicht entwunden werden. Utopie findet sich am wenigsten in der faktisch organisierten Linken, ebensowenig in der institutionalisierten linken Kritik, Utopie findet sich erst im Ausfechten des Organisationsproblems, wenn der Mittelcharakter der Organisation in der Prüfung des gemeinten Telos je und je kollektiv transzendiert schon ist, der Sinn Benjaminscher Rede von Theologie. Benjamin wird neuerlich debattiert, weil die Geschichte tatsächlich auf der Stelle zu treten scheint.”5
Dieser Beschluss vertritt meine Interpretation des späten Benjamin. Dieser hatte sich in seinem Pariser Exil von der Orientierung an Komintern und Sowjetunion gelöst. Er stand dem Surrealismus und Anarchismus nahe – auch dem Situationismus, soweit man von diesem in den späten 1930er Jahren schon reden kann. Er stand ihm so sehr nahe, dass er zusammen mit den Anarchisten von einem Kongress ausgeladen wurde, der 1935 unter dem Namen „Volksfront” eigentlich für alle Antifaschisten Europas zur Verteidigung der Kultur gegen die Nazis in Paris ausgerichtet wurde. Die Ausladung erfolgte in breiter Front, unterstützt von den Manns bis eben zu den der Komintern Nahestehenden. Walter Benjamin hat dann seinen Vortrag zum antifaschistischen Feld der Kulturverteidigung in anarchistischem Umkreis gehalten. Daraus wurde schließlich der Aufsatz „Der Autor als Produzent”. Darin beginnt er, sich sogar von zentralen Ansichten Brechts zu distanzieren, mit dem er zuvor mächtig übereinstimmte. Ich meine insbesondere Brechts These von der Proletarisierung der Kunstproduzenten aller Branchen, der Benjamin heftig widerspricht. Bloch, nicht bekannt mit dem „Autor als Produzent”, empfand die Übereinstimmung Benjamins gar als etwas sklavisch. Allerdings wusste er, dass solcher Eindruck durch Brecht gefördert wurde, der das Verhältnis gern als eines des Herrn Puntila zu seinem Knecht Matti erscheinen ließ.
In den zitierten Schlusssätzen drücke ich nun Benjamins spätes Verhältnis zur Utopie durch eine wiederum viel spätere, flotte Formulierung von Adorno aus, die der späte Benjamin geteilt hätte: Es gibt kein wahres Leben im falschen. Doch das schließt für Benjamin das nachhaltige Insistieren auf differiert-differierende Spuren wie Einsatzstellen des Utopischen im falschen Leben ein, nach denen revolutionäres Denken zäh und immer wieder unnachgiebig suchen muss, ohne dabei auf Hilfe durch sämtliche Institutionen der Arbeiterbewegung zählen zu dürfen, in denen keine Utopie mehr vorhanden sei.
Damit setzt sich der späte Benjamin nicht nur von der Sozialdemokratie und den an ihr orientierten Gewerkschaften ab, das tat er ja schon immer. Vielmehr setzt er sich nun auch von Sowjetunion und Komintern ab, und das bis zu Lenin hin. Benjamin verspürt bei diesem eine Verabsolutierung des Organisationellen; Lenin = Fetisch der Organisation. Doch müsse im revolutionären Denken mit Anstrengung das Organisationelle auf seinen Werkzeugcharakter, seinen Instrumentalcharakter beschränkt und dort festgehalten werden, weil es so leicht zum Selbstzweck ausrutscht. In allem Organisationellen muss immer wieder der Aufbruch zum Überschreiten seiner selbst hin auf die Horizonte der Ziele betrieben werden. Für solches Transzendieren könne man viel aus der Geschichte der Theologie lernen. In Religion war immer eine Kritik des Kirchlichen lebendig, selbst noch in konservativer Theologie, die doch den Respekt vor der Mystik bei allen Ketzerfeldzügen nie ganz verlor. Benjamin hätte der Sentenz des frühen Georg Lukács zugestimmt, man müsse noch in jedem Bergarbeiterstreik in Ungarn das Einläuten der Apokalypse spüren. Das empfand ich zur Zeit des Abfassens von meinem Benjamin-Büchlein als hoch aktuell. Damals gingen bei den Linken die Debatten los, die Linke sei ja nur gescheitert, weil sie sich falsch oder unzulänglich organisiert habe. Und das Hauptanliegen eines Neuaufbruchs der Linken müsse die richtige Organisation sein.
Bloch hat in seinem Buch „Erbschaft dieser Zeit” das Unabgegoltene der Vergangenheit betont. Das Problem eines ungleichzeitigen Bewusstseins wird dort im Hinblick auf die gescheiterte kommunistische Politik diskutiert. Gerade der Nationalsozialismus habe es geschafft, ideologische Bewusstseinsinhalte und damit verbundene Bedürfnisse und Sehnsüchte unterschiedlicher Gruppen und Klassen zu adressieren. Inwiefern unterscheidet sich Blochs Analyse des Nationalsozialismus von der des Instituts für Sozialforschung?
„Erbschaft dieser Zeit” erschien 1934/35 in Zürich. Das Buch entstand zu ganz großen Teilen aus bereits in den vorangegangenen zehn Jahren erschienenen Aufsätzen. Allerdings wurden sie durch einige neue Kapitel ergänzt. Bloch wendet sich speziell den Fragen einer Erbschaft der Lebenskultur der Spätbourgeoisie in ihrer Krise zu. Das ist verwoben in eine Auseinandersetzung mit der propagandistischen Nazi-Ideologie, die sich, laut Bloch, sehr an Sehnsüchte aus der Vergangenheit anschloss, solches allerdings in betrügerischem Verfahren.
Modellhaft kann dies an der bitteren Ironie Blochs gegen die „Sachsen ohne Wald” aufgezeigt werden. Gemeint sind die Sachsen aus Widukind-Tagen der Aufstände gegen Karl den Großen. So meint das Wortbild den Kult der Nazi-Ideologie mit dem freien Bauern auf freier Scholle, während die Nazipolitik höchste Industrialisierung vorantrieb. Die Nazis betrieben unter dem Motto ihrer Bauernideologie das Gegenteil, so agrarutopisch und anarchistisch ihr Lob für Thomas Münzer klingen mochte.
In „Erbschaft dieser Zeit” entwickelt Bloch ein theoretisches Grundanliegen, welches das Ungleichzeitige einer Gesellschaft erforschen, durchschauen und überprüfen will. Es ist eine Suche nach dem Utopischen inmitten der Entstellungen spätbürgerlicher Lebenskultur, ihren Philosophien und mitten in den Verdrehungen der Nazipropaganda. Ungleichzeitigkeit wird dabei als eine Sicht-, Wertungs- und Denkweise erörtert, wie sie vergangenen Zuständen (meint wirtschaftlichen Verhältnissen der Produktion und der Austauschweise) gemäß waren. Treten solche Haltungen unter Menschen einer fortgeschritteneren Produktions- und Austauschweise auf, dann würde man, so Bloch, von einer Zurückgebliebenheit des Bewusstseins sprechen, weil es nicht mehr den realen Lebensverhältnissen entspricht. „Erbschaft dieser Zeit” entdeckt, dass es auch unter äußerst fortgeschrittener Industrialisierung der Produktion und Maschinisierung des Verkehrs in Bereichen des Handwerks (besonders des Reparaturbetriebs), der Dienstleistungen (besonders der Gastronomie) oder der Landwirtschaft noch recht breite Schichten gibt, in denen sich alte Produktionsweisen und Austauschverfahren erhalten. So zum Beispiel die Familie als Produktions- und erste Austauschgemeinschaft, Familie vielleicht ergänzt um ein paar Gesellen und Lehrlinge, fast wie im Mittelalter. Unter Menschen dieser Schichten seien alte Sichtweisen und Denkhaltungen eben nicht zurückgeblieben, denn die alten Basisstrukturen ihres Lebens entsprächen in diesen Fällen dem damit verbundenen alten Bewusstsein. Darin zeigt sich also kein Zeitbruch zwischen Bewusstsein und gelebtem Sein. In den Menschen dieser Schichten selber besteht Gleichzeitigkeit, und nur gegenüber dem mittlerweile geltenden Gesamtgesellschaftlichen passiert der Zeitbruch. Daher müsse man von Ungleichzeitigkeit im Unterschied zu Zurückgebliebenheit sprechen, sagt Bloch. Im Ungleichzeitigen nun müsse man mit besonders viel echt utopischem Vorkommen rechnen, weil es ja wie eine Art noch gelebter Vergangenheit wäre und nicht nur bloß durch die Mühlen der interessengeleiteten Transformulierungen gegangene Rezitationen des Vergangenen. Das Bewusstsein der alten (Kleinstunternehmer) und der neuen Mittelschichten (erweiterte Beamtenschaft, Angestellte, in die Mittelschichten eingerückte Arbeiter) werde, so Bloch, weithin von diesen zwei Bewusstseinsformen umrissen: zum einen der Zurückgebliebenheit, die ein besonderes Feld der Verkitschung darstellt, und zum anderen der Ungleichzeitigkeit, die wegen ihrer Lebensauthentizität kein Kitsch sein kann. Er betont das „weithin”, denn gerade darin habe sich die Nazi-Propaganda mit großem Erfolg eingenistet. Sie betrügt die Sehnsüchte der Vergangenheit, indem sie den freien Bauern verspricht, um so den maschinisierten Arbeiter, den maschinisierten Soldaten, den maschinisierten Verwalter der Zerstörung, der Massenfolter und des Massenmords herzustellen.
Damit sind die Hintergründe bis zu einer Aktualisierung von Blochs Analyse des Nationalsozialismus umrissen. Sie steht nicht im Widerspruch zu den Analysen der Kritischen Theorie, und das schließt Franz Neumanns Analyse des Nazi-Machtsystems mit ein. Für Horkheimer und Adorno etwa ist ja die gesamte sich industrialisierende Kultur des Kapitalismus unterwegs zum Faschismus. Und hier hakt Bloch ein. Nein, in dem Feld liegt auch utopisches Vorkommen, mit dem man vorsichtig ideologiekritisch umgehen muss. So sein ganz anderes Verhältnis zum Film etwa, zum Jazz, zum Tanz, ja zur Ästhetik der Warenwelt in „Erbschaft dieser Zeit”. Daher konzentriert er seinen Beitrag auf die Frage des Erfolgs der Nazi-Propaganda bei den Massen und insbesondere bei den Massen der in die Mittelschichten eingerückten Arbeiter. Die Nazis haben sich in der Tat nur der aus der Lebenskultur der Mittelschichten heraus regenden Sehnsüchte bedient, um sie zu betrügen, während sozialdemokratische und kommunistische Bewegungen sich immer nur mit dem Streben nach Ende der Ausbeutung und nach Gerechtigkeit im Sinn gerecht verteilter Arbeitsauflagen und gerecht verteilter Lebensgüter propagierten. Damit seien sie in einer Art Ökonomismus stecken geblieben.
Die Kritische Theorie auf der anderen Seite habe sich zu sehr auf ein hoch entwickeltes Kritikbewusstsein konzentriert, welches die Massen nicht erreichte, außer es wäre gelungen, breitere Vermittlerschichten zu gewinnen. Sie waren aber nicht vorhanden und daher auch nicht heranziehbar.
Als die Artikel in den 1920ern und 30ern noch vor der Herausgabe des Buches in Tageszeitungen erschienen, hatte Bloch freilich noch gehofft, auf die Propaganda der Antifaschisten Einfluss nehmen zu können. Das Buch entstand also noch zu Zeiten der Aktion und ist somit keine retrospektive Beurteilung, wie Benjamin ihm in seinem Brief vorwarf.6
Beeinflusst diese Beurteilung des utopischen Potentials des Vergangenen auch die Kontroverse mit Georg Lukács, die ebenfalls in den 1930er Jahren beginnt?
Bloch greift die Reduktionen marxistischer Debatten in Sachen Ethik, Recht und Kunst an. Auf solchem Weg würde die Phantasie als revolutionäre Kraft abgewürgt.[ ]Deutlich wird diese Position von Bloch in einer Auseinandersetzung mit Lukács. Dieser hatte sich ja von Bloch mit dem Verdikt getrennt, Bloch habe zwar eine linke Ethik, aber eine rechte Erkenntnistheorie. Die große Auseinandersetzung zwischen Bloch und Lukács nannte man später den Expressionismusstreit oder die Realismusdebatte. Lukács hatte alle moderne Kunst nach dem Impressionismus, dem Jugendstil und dem Symbolismus zur bürgerlichen Zerfallskunst erklärt, worin allein die Dekadenz der Bourgeoisie gefeiert werde. Daran gäbe es nichts zu erben. Bloch erwiderte, dass es ein Erbe nicht nur an der neuesten Maschinerie und Technologie des späten Bourgeois gäbe, sondern auch an dessen revolutionärer Kunst. Und das unter der Perspektive des Utopischen und nicht nur im Sinn eines Kritischen Realismus. Spätbürgerliche Technologie gehöre zusammen mit den spätbürgerlichen Träumen der bildenden Kunst vom besseren Leben zu den Zukunftshorizonten der kommunistischen Bewegung: das Eine nicht ohne das Andere. Wer die Technologie will, kann die darein verwickelte, spätbürgerliche Lebenskultur nicht durchwegs und ungebrochen dem zu überwindenden falschen Leben zuordnen.
Bloch drang damit politisch nicht durch, Lukács’ Haltung entsprach dem, was innerhalb der antifaschistischen Volksfront und dann der Kommunistischen Internationale siegte. Erbschaft am Unabgegoltenen der Vergangenheit blieb also sehr borniert und Phantasie stand unter Generalverdacht bürgerlicher Individualdekadenz, mit der man sich in der kommunistischen Bewegung nur in den Ruin treiben konnte. Bloch war derart ihr dauernder Dissident.
In den Jahren 1936–1938 fanden die Moskauer Schauprozesse und der Große Terror unter Stalin in der Sowjetunion statt, bei dem unzählige Kommunisten verfolgt und ermordet wurden. 1939 folgte der Hitler-Stalin-Pakt, der für viele zum Symbol des Verrats wurde. Dennoch setzten zahlreiche linke und marxistische Intellektuelle ihre Hoffnungen im Kampf gegen Faschismus und Nationalsozialismus auf die Sowjetunion. Wie unterscheidet sich Blochs Beurteilung der Lage in der Sowjetunion angesichts der Moskauer Schauprozesse von der des Instituts für Sozialforschung?
Was mich bei Durchsicht der Bloch’schen Schriften aus der Zeit zunächst befremdete, war seine rabiate Anklage gegen die gesamte bürgerliche Presse. All ihre Berichterstattung zu den Moskauer Prozessen bestünde nur aus Lügen. Er schloss sich hier Lion Feuchtwanger an, der selber im Winter 1936–37 in Moskau gewesen war. Bloch verteidigte die Schauprozesse in drei Artikeln zwischen 1937–38. Stalin führte diese Prozesse gegen alte Revolutionsgenossen mit Folter, Gehirnwäsche, Todesurteilen nach erzwungenen Selbstanklagen und selbst verhängten Hinrichtungen. Das wissen wir heute, das berichtete aber die bürgerliche Presse schon damals, der Blochs Lügenvorwurf galt. Dass die Schauprozesse nur der Auftakt zu größten Säuberungen per Liquidation waren, konnte Bloch zu der Zeit nicht wissen.
So sehr er mit Verteidigung der Moskauer Prozesse im Kurs von Stalin lag – die Begründung, die er damals zur Verteidigung darlegte, hätten ihn selber, wäre er nach Moskau emigriert, zum Opfer der Stalin’schen Säuberungen gemacht. Denn er widersprach dem Vorwurf, dass Angeklagte wie Deborin, Bucharin und Trotzki Agenten und Spione Hitlerdeutschlands gewesen seien. Sie hätten sich nur für andere Wege zum Sozialismus und Kommunismus engagiert, als Stalin sie vorzeichnete. Aber das genügte, so Bloch, um einen Parteienstreit herbeizuführen, an dem die Sowjetunion hätte zerbrechen können – und mit ihr das letzte Bollwerk gegen das Dritte Reich. So sah es für ihn vor dem Hitler-Stalin-Pakt aus, von dem er in der Tat noch nichts ahnen konnte. Die westeuropäischen Staaten befanden sich auf dem Weg der Appeasement-Politik. Man könnte sagen, Bloch hat die gesamten Vorgänge der Moskauer Prozesse unter einer außen- und militärpolitischen Perspektive beurteilt. Auch wenn es dabei Opfer gab und, nach einem viel späteren Wort von Wolfgang Leonhard, die Revolution ihre eigenen Kinder fraß. Dass im Notstand mit allen Mitteln Einheit und Zusammenhalt erzwungen werden muss, ist natürlich ein ganz konservatives Argument. Aber Bloch zitterte damals wirklich um die letzten Widerstandsmächte gegen Nazi-Deutschland, in der Gewissheit, dass dann Europa nirgendwo mehr belebbar wäre, lebensfeindliche Mondlandschaft. Obwohl dem so tief im Optimismus Steckenden ein solches Zittern einigermaßen fremd war, hatte es ihn zu dieser Zeit gepackt, beherrscht und so rücksichtslos schreiben lassen.
Vor diesem Hintergrund erscheinen seine Aufsätze in vergeblich grotesker Tragik. Insbesondere, als Stalin selbst herbeiführte, wogegen Blochs ganze Verteidigung gerichtet war: die Verständigung mit Hitler im Hitler-Stalin-Pakt. Bloch wurde sprachlos. Doch er konnte die Aufsätze nicht mehr rückgängig machen.
Sie wurden zu dem eigentlichen Grund, weshalb Adorno Bloch nicht in die Arbeit des Instituts für Sozialforschung miteinbezog. Bloch wäre wegen seiner Parteinahme für Stalins Kommunismus eine zu große Belastung für das Institut geworden, so meinten Horkheimer und Adorno. Auch wenn noch nicht die McCarthy-Ära angebrochen war, so gab es in den USA zu diesem Zeitpunkt schon einen mächtigen Antikommunismus. Die Angst war nicht unberechtigt oder vorgetäuscht. Insofern kann man Adorno etwas verstehen, dass er Bloch die Mitarbeit im Institut verweigerte. Das Institut hätte Schwierigkeiten bekommen und als Kommunistennest verketzert werden können, obwohl dann Bloch gerade in der McCarthy-Ära die amerikanische Staatsbürgerschaft auf Lebenszeit erhielt. Vielleicht hätte auch bei seiner Mitarbeit am Institut kein Hahn danach gekräht.
Auf jeden Fall aber sind die drei Verteidigungsaufsätze der Moskauer Prozesse kein Bekenntnis zum Stalinismus im Allgemeinen. Der Hitler-Stalin-Pakt hat Bloch einen erleuchtenden Ruck gegeben – spätestens ab diesem Zeitpunkt war das Misstrauen da. Aber schon 1936 hatte Hans Günther in der von der Komintern abhängigen Internationalen Literatur ein Verriss seiner „Erbschaft dieser Zeit” veröffentlicht. Hauptvorwurf: Bloch wolle die Religion wieder in den Sozialismus einschleppen. Dieser Artikel war wohl der wahre Grund, warum Bloch nicht an eine Emigration nach Moskau dachte, sondern aus seiner Prager Emigration über Polen in die USA floh. Es war eine äußerst tragische Geschichte: die Familie seiner Frau Karola aus Lodz ermöglichte den beiden und ihrem Sohn Jan Robert die Emigration in die USA. Sie bezahlte die Schiffsreise und stellte das Geld bereit, das nötig war, um in die USA eingelassen zu werden. Die Familie selber wurde hingegen in den Gaskammern der Deutschen umgebracht, weil sie nicht an eine Judenvernichtung glauben wollte.
In der amerikanischen Emigration folgte eine lange Pause der Buchveröffentlichungen. Sicher standen hier mittelbar Horkheimer und Adorno im Weg, allerdings nur, da sie aufgrund Blochs Nähe zum Kommunismus keine Veröffentlichungen von ihm in der Zeitschrift des Instituts sehen wollten. So kam es dazu, dass nur ein Teil aus „Prinzip Hoffnung” unter dem Titel „Freiheit und Ordnung” in deutscher Sprache erschien. Das Buch wurde durch den Aurora Verlag in New York veröffentlicht und richtete sich an die deutschsprachigen Emigranten. „Subjekt – Objekt. Erläuterungen zu Hegel” wurde ins Spanische übersetzt, durch einen Verlag in Mexiko City publiziert.
Die Scheidung zwischen Bloch und den Frankfurtern scheint ab diesem Zeitpunkt endgültig zu sein. Sie gingen nach ihrer Rückkehr nach Deutschland getrennte Wege.
Adorno nahm Bloch sehr übel, dass er 1949 aus der USA-Emigration nach Leipzig ging, also in die DDR, statt in die Bundesrepublik. Er unterstellte, dass Bloch in West und Ost die Wahl zwischen zwei ungefähr gleichen Optionen gehabt hätte, obwohl es schlichtweg kein Angebot aus Westdeutschland gab. Er hätte als freier Schriftsteller ohne Einkommen neu anfangen müssen. Auch seine Frau, die in Amerika Architektin war, hätte ihre Stelle aufgeben müssen. Bloch, bei seiner Identifikation mit der deutschen Sprache, wollte aber in den deutschen Sprachraum zurück. Er bekam einen Ruf auf die Professur und Institutsleitung an der Universität Leipzig. Schließlich spielte auch eine Rolle, dass der Weg nach Leipzig die Möglichkeit bot, an einem deutschen Sozialismus im Aufbau mitzuwirken. Gewiss, das sah Bloch als eine Art von Pflicht an, von der er sich nicht drücken könne. Er hat während seiner DDR-Zeit von Anfang an mitgewirkt – als Querdenker. Er hat sich keinesfalls in die DDR-Ideologie eingepasst. Darum wurde er von der offiziellen DDR und ihrer Kultur als Störung empfunden. Das zeigen die Angriffe auf ihn, die im Jahr seiner Ankunft, 1949, beginnen.
Man entsetzte sich zum Beispiel über ihn, weil er öffentlich lehrte, dass es zwei große Materialisten des Anthropologischen gäbe: den Materialisten des Sozialen – Karl Marx – und den Materialisten des Individual-Psychologischen – Sigmund Freud. Letzterer war aber in der Sowjetideologie des Teufels, eben als der bourgeoise Individualist schlechthin, der das Asoziale vertrete. Und den setzte nun Bloch neben den heiligen Karl Marx, als müsse der durch Freud gleichwertig ergänzt werden.
Dann kamen die alten Vorwürfe auf, Bloch wolle Religiöses wieder in den Marxismus einschleppen, um aus ihm eine Art Religion zu machen statt einer Wissenschaft. Dauernder Reibebaum blieb, dass Bloch sich überhaupt weigerte, am Grundstudium des Marxismus-Leninismus mitzuwirken, was gemäß der Sowjetideologie die Hauptfunktion des Fachs Philosophie sein sollte. Bloch sah darin aber nur den schulischen Klapperatismus derer, die so gern auswendig lernen lassen wollten. Das war Nichts für sein offenes, daher ebenso von ständigem Zweifel getriebenes Denken.
Blochs utopische Ruhelosigkeit war auch einer der größten Konfliktpunkte mit der SED. Diese warf ihm vor, er habe keinen Sinn für die großartigen Verwirklichungsleistungen der DDR. Sein utopisches Maß ließe das Alles als dürftig und völlig unzureichend erscheinen. Er warf der kommunistischen Bewegung in der Tat vor, dass sie für das Unabgegoltene der Vergangenheit, welches aufgegriffen werden müsse, keinen Sinn entwickelt habe. Alles Vergangene – mit Ausnahme der Entwicklung der Produktionsmittel und Produktivkräfte – habe keinen Wert für die Zukunft der kommunistischen Bewegung. Es sei ihrem historischen Bewusstsein nur Dokument für unzulängliche Zustände. Bloch bewertete aus dieser Perspektive die kommunistische Bewegung auf ganz ähnliche Weise wie Adornos ganz Anderes im Hinblick auf die Zukunft.
Dass Bloch trotz derart schwerer Angriffe nicht bald wieder verstoßen wurde, lag an einer ausnahmsweise erstaunlich kritischen Selbstreflexion der obersten Machthaber der DDR. Walter Ulbricht und Kurt Hager waren der Meinung, dass der Sozialismus in der DDR sich nicht einer Revolution verdanke, sondern ein geschenkter Import der sowjetischen Freunde sei. Daher seien die bewusstseinsverändernden Prozesse der Revolution ausgeblieben. Das müsse man nun in einer riesigen Kulturrevolution nachholen. Und diese Kulturrevolution müsse an alles Antifaschistische, das sich deutsch geregt habe, anknüpfen. Zum Antifaschismus haben nun eben auch Bloch und Brecht gehört. Solchen Ansichten im Politbüro verdankten Bloch und Brecht eine gewisse Freiheit auf der Idiotenspielwiese: immer überwacht, aber nicht geschasst, vielmehr im Endeffekt gedeckt gegen die Angriffe auf sie.
Zu den frühen Attacken auf Bloch und den Debatten im Politbüro habe ich einiges in meiner Einleitung zu den „Materialien zum Prinzip Hoffnung” zusammengetragen.7 1956 aber explodierte alles. Bloch hatte das Jahr über mehrfach seine Sympathie für die ungarischen Unruhen angedeutet. Als aber die Rote Armee den Ungarnaufstand niedergeworfen hatte, da ging man auch in der DDR gegen die Sympathisanten der Aufständischen vor. Bloch wurde als Keim dieses Sympathisantentums angesehen. Damit hatte Bloch Kopf und Kragen riskiert und sich nicht bloß etwa an einer Salonrevolution beteiligt (wie sein Sohn ihm nach der Wende vorwarf). Der Ungarnaufstand ging ans Mark des Sowjetismus. Man konnte nicht wissen, ob anlässlich seiner Niederschlagung die DDR gar wieder die Todesstrafe für politische Vergehen praktizieren würde. Immerhin wurden Leute wie Wolfgang Harich und Walter Janka zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt und mussten diese auch antreten. Bloch allerdings behandelte man schließlich im Vergleich dazu relativ lässig: Er wurde im Osten mundtot gemacht, alle Lehrbefugnis wurde ihm entzogen, auch in Einzelvorträgen. Er bekam Publikationsverbot. Doch sagte Bloch selber, man habe ihn beim Publikationsverbot etwas vorsichtiger behandelt als seinen Freund Lukács. Während von Lukács’ Werken die Satzplatten zerstört wurden, habe es bei ihm immer nur geheißen, dass Papierknappheit bestünde, und da gäbe es so viel Wichtigeres zu veröffentlichen. Auf Blochs Ausschluss aus der Akademie der Wissenschaften verzichtete man. Die Akademie hatte ja noch viele westliche Mitglieder und war auch in ihrer Arbeit zum Teil nach Westen gerichtet. Ein Ausschlussverfahren hätte zu viel internationalen Lärm gemacht. Entsprechend den Rechten eines Akademiemitglieds konnte Bloch innerhalb der Akademie auch auf DDR-Boden Vorträge halten, aber nur vor Mitgliedern der Akademie. Diese waren ohnehin entweder aus dem Westen oder treue Parteianhänger. Insofern berührte diese Vortragsfreiheit nicht die Interessen der DDR-Führung, war ihr also gleichgültig.
In den Westen durfte Bloch frei reisen, mit der Gewähr einer Rückkehr. Er durfte dort frei vortragen und seine Schriften publizieren. Innerhalb der DDR aber vereinsamten die Blochs, weil jeder Kontakt mit ihnen verdächtig machte und Geheimdienstkontrollen nach sich zog. Dass die Blochs trotzdem von 1956 bis 1961 in Leipzig blieben, hatte selbstverständlich materielle Gründe. Es gab auch Freunde, die sich über die Verdächtigungen und deren Risiken hinwegsetzten. Die Blochs hatten dort ein Haus und die Professorenpension des Zwangsemeritierten. Bei einem Gang in den Westen hätte materiell wieder alles bei null angefangen.
Als 1961 plötzlich die Mauer gebaut wurde, war Bloch auf Westreise. Er befürchtete, dass er nicht erneut aus der DDR herauskäme und man ihn dann zwingen könnte, seine Werke zu widerrufen und seine Einstellung aufzugeben. Dies war dem KP-verbundenen Lukács bereits zwei Mal passiert und es war für Bloch eine Horrorvorstellung. All das bewog ihn zum Verbleib im Westen; allerdings erst, nachdem in einer Nacht- und Nebelaktion seine Manuskripte und Entwürfe gerettet waren. Ihr Verlust war die andere Horrorvorstellung.
Nun musste er allerdings nicht mehr bei null anfangen. Bloch hatte seit 1958 einen Generalvertrag mit dem Suhrkamp-Verlag, der ihm beim Neustart im Westen half. Seine jetzige Situation war also mit der ersten und zweiten Emigration – 1917 in die Schweiz und 1938 in die USA – nicht zu vergleichen, aber es war dennoch anstrengend. Der Verlag sorgte für viele Vortragseinladungen in der ganzen BRD und darüber hinaus. Und dann kam die Gastprofessur auf Lebenszeit an der Universität Tübingen, wofür Bloch allerdings kein Gehalt, sondern nur Aufwandsentschädigungen erhielt. Aber immerhin hatte er damit nun ein regelmäßiges Einkommen, und auch die Bücher begannen Erträge abzuwerfen.
Wie hat sich das Verhältnis zu Adorno entwickelt?
Ich war von 1968 bis zu seinem Tod 1977 bei Bloch Assistent und wissenschaftlicher Mitarbeiter und hatte einen sehr nahen Umgang mit ihm. Wenn ich mich an Gespräche bei ihm Zuhause oder in seinem Arbeitszimmer erinnere, so fühlte er sich Adorno doch weithin verbunden. Alle Bosheiten Adornos, auch die gegen Benjamin, führte er auf Horkheimer zurück. Adorno selber sei seinem Wesen nach ein gutmütiger Kerl gewesen. Obwohl Adorno nichts zur Förderung von Blochs Interessen im Westen beitrug, so legte er ihm auch nichts in den Weg. Allerdings hat Adorno nie recht anerkannt, dass Bloch seit Beginn an ein Ur-Dissident in der DDR war. Ihn ließ fremdeln, dass Bloch in den frühen Leipziger Zeiten Stalin zitierte (auch wenn es sich, in sklavensprachlicher List, nur um die sprachphilosophischen Untersuchungen des Diktators handelte) und 1956 den Nationalpreis erhielt.
Im Übrigen gab es ein paar Reibereien über Rezensionen. Bloch etwa konnte verhindern, dass Adorno seine Attacke auf Lukács unter dem Titel[ „Haut ihm, den Lukas!” ]hat laufen lassen.8 Für sich selbst gelang das Bloch nicht. Adorno veröffentlichte zu ihm einen Aufsatz unter dem Titel „Große Bloch-Musik”, mit selbstverständlicher Anspielung auf das deutschsprachige Redebild „Blech-Musik”.
Abgesehen davon bestand zwischen beiden doch eine sehr entfernte Atmosphäre der Freundschaft. Im Gespräch mit Jean-Michel Palmier hat Bloch etwas zugespitzt, wenn er diese Freundschaftlichkeit in die Vergangenheit abschob.9 Es lässt uns eine anhaltende und gegenseitige Freundschaftlichkeit spüren. Ich halte es, neben dem Gespräch mit Palmier, für eines der wichtigsten zu Blochs Spätphilosophie. | P
- Gustav Landauer: Die Revolution. Frankfurt am Main 1907. ↩
- Vgl. Walter Benjamin an Alfred Cohn (6.2.1935, Brief Nr. 254). In: ders.: Gershom Scholem (Hg.): Briefe. Bd. 2, Frankfurt am Main 1978, S. 648f. ↩
- Es ist das Verdienst Axel Honneths in seiner Dankesrede für den Ernst-Bloch-Preis der Stadt Ludwigshafen 2015 auf den Bezug Kant – Bloch in dieser Frage hingewiesen zu haben, obwohl er dann das Bloch’sche herabsetzte, als habe es nur den Ansatz geliefert. ↩
- Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: ders.: Rolf Tiedemann (Hg.): Gesammelte Schriften. Bd I/2, Frankfurt am Main 1992, S. 690-709. ↩
- Burghart Schmidt: Benjamin zur Einführung. Hannover 1983, S.70. ↩
- Vgl. Benjamin an Cohn (Brief Nr. 254), ebd. ↩
- Burghart Schmidt: Materialien zu Ernst Blochs Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main 1978. ↩
- Adorno hat den Aufsatz gegen Lukács unter dem Titel „Erpresste Versöhnung” in der Zeitschrift „Der Monat” (Nr. 122, Nov. 1958) erscheinen lassen und in seine Aufsatzsammlung „Noten zur Literatur II” (Frankfurt am Main 1961) aufgenommen. ↩
- Ernst Bloch: Ein Marxist hat nicht das Recht, Pessimist zu sein. Gespräch mit Jean-Michel Palmier. In: Arno Münster (Hg.): Tagträume vom aufrechten Gang. Sechs Interviews mit Ernst Bloch. Frankfurt am Main 1977, S.101–120. ↩