Die Frankfurter Schule behandelte das Problem des politischen Scheiterns des Sozialismus unter dem Gesichtspunkt des revolutionären Subjekts: der Massen in der demokratischen Revolution und der politischen Partei für den Sozialismus. Durch das Scheitern der Revolution hatten die Massen jedoch zum Faschismus und die Partei zum Stalinismus geführt. Was zwischen ihnen liquidiert wurde, war der Marxismus oder: proletarischer Sozialismus. Was liquidiert wurde, war die Arbeiterklasse als solche, als politisch konstituierte Klasse. Was liquidiert wurde, war der Klassenkampf der Arbeiterklasse – für diesen galt den Marxisten die Zielsetzung des Sozialismus als Voraussetzung. Dieses revolutionäre, politische Ziel des Sozialismus war eine Bedingung, damit der Klassenkampf und die Arbeiterklasse per se existieren konnten.
Für den Marxismus war das Proletariat ein hegelianischer Begriff: Es zielte auf die Verwirklichung durch Abschaffung seiner selbst. Ohne den Kampf um den Sozialismus führte der Kapitalismus die Massen zum Faschismus und die Partei zum Stalinismus. Somit bestimmte das Scheitern des Sozialismus das 20. Jahrhundert.
Das Vermächtnis der Russischen Revolution ist zweifelsohne zwiespältig. Ihr ambivalenter Charakter kann aufgeteilt werden in seine Akteure – Massen und Partei – oder in seine Daten – Februar und Oktober 1917.
Gemeinhin wird die Februarrevolution 1917 als demokratische Revolution und als spontane Aktion der Massen betrachtet. Im Gegensatz dazu wird die Oktoberrevolution als sozialistische Revolution und als Aktion der Partei beurteilt. Doch diese Betrachtung verfälscht die Geschichte – diejenige der Ereignisse wie auch die der beteiligten Akteure. Was hierbei verloren geht, ist die spezifische Rolle der Arbeiterklasse, die verschieden ist von den Massen und der Partei. Die Sowjets, oder: Arbeiter- und Soldatenräte, waren die ausführenden Organe der Massen in der Revolution. Die Partei war das ausführende Organ der Arbeiterklasse im Kampf um den Sozialismus. Die Partei war als die ausführende politische Instanz gedacht, die die soziale Revolution – die Transformation der Gesellschaft: die Überwindung des Kapitalismus – der breiten Basis der Arbeiterklasse und der Massen ermöglichen sollte. Die fehlende Unterscheidung zwischen Massen, Arbeiterklasse und Partei führt so weit, dass die Oktoberrevolution als „Bolschewistische Revolution“ bezeichnet wird – eine antikommunistische Verunglimpfung, an deren Perpetuierung der Stalinismus mitschuldig war. Die Bolschewiki beteiligten sich an der Revolution, waren aber nicht verantwortlich für sie.
Im Jahr 1937 erschien zum 20. Jahrestag der Revolution von 1917 Trotzkis Artikel „Bolschewismus und Stalinismus“, in welchem er darlegt, dass der Stalinismus die „Antithese“ des Sozialismus sei. In diesem Artikel merkt Trotzki an, dass die Bolschewiki sich selbst weder mit den Massen, der Arbeiterklasse, der Revolution, noch mit dem scheinbar „revolutionären“ Staat, der aus der Revolution erwuchs, direkt identifizierten. Wie Trotzki in seinem Buch „Geschichte der Russischen Revolution“ aus dem Jahr 1930 schrieb, war es ein Problem für Moralisten, ob es nun gut oder schlecht sei, dass die Massen die Bühne der Geschichte betreten hatten – der Marxismus hingegen müsse damit rechnen, unabhängig davon, ob dies gut oder schlecht sei. Doch inwiefern hatten Marxisten damit gerechnet?
Marx hatte festgestellt, dass das Scheitern der Revolutionen von 1848 den „Bonapartismus“ hervorgebracht hatte: die Herrschaft des Staates, der behauptete, im Interesse der Gesellschaft als Ganzer und besonders im Interesse der Massen zu handeln. Louis Bonaparte, bei dem wir bedenken müssen, dass er selbst ein utopischer Sozialist in der Nachfolge Saint-Simons war, beanspruchte im Sinne der unterdrückten Massen, der Arbeiter und Bauern zu handeln – gegen Kapitalisten und deren korrupte Politiker, einschließlich erklärtermaßen „liberaler“. Louis Bonaparte profitierte von der Verbitterung der Massen gegenüber den Liberalen, die die Erhebungen der Arbeiter in Paris blutig niedergeschlagen hatten. Er beutete das Unbehagen der Massen aus.
Einer der entscheidendsten Gründe, weshalb der Stalinismus für Trotzki die Antithese des Bolschewismus – und das heißt: des Marxismus – war, ist der Umstand, dass der Stalinismus sich, im Gegensatz zum Bolschewismus, mit dem Staat, mit der Arbeiterklasse und selbst mit den Massen gleichsetzte. Und dies war für Trotzki die Liquidierung des Marxismus. Es war das Nachgeben des Stalinismus gegenüber dem Bonapartismus. Trotzki betrachtete den Bonapartismus Stalins nicht als dessen persönliche Verfehlung, sondern als Notwendigkeit der Bedingungen, die sich aus dem Scheitern der sozialistischen Weltrevolution ergaben. Der Stalinismus als herrschende Ideologie des „revolutionären Staates“ UdSSR wies die Widersprüche auf, die aus dem Scheitern der Revolution folgten.
Im Verständnis des Marxismus bedarf der Sozialismus keiner sozialistischen Partei und keines sozialistischen Staates mehr. Indem der Stalinismus die Ergebnisse der Revolution – den diktatorischen Ein-Parteien-Staat – mit „Sozialismus“ gleichsetzte, liquidierte der Stalinismus die tatsächliche Aufgabe des Sozialismus und betrog ihn somit. Indem er behauptete „demokratische Republiken“ und „Volksrepubliken“ zu regieren, gestand der Stalinismus seine Niederlage im Kampf um den Sozialismus ein. Stalinismus war der Versuch einer Defensivtaktik – welche jedoch die Möglichkeit einer sozialistischen Politik selbst untergrub. Und tatsächlich basierte der Stalinismus dort, wo er sich nicht mit der Gesellschaft, die er zu beherrschen versuchte, gleichsetzte, auf einem andauernden Bürgerkrieg. So befand sich die Partei nicht nur beständig im Krieg gegen die spontane Tendenz der Gesellschaft zum Kapitalismus hin, sondern auch gegen ihre eigenen Mitglieder: potentielle oder tatsächliche Verräter an der feierlich beschworenen sozialistischen Mission. Damit räumte der Stalinismus nicht nur ein, dass die „Revolution“ (wenn auch ohne Erfolg) weiterhin andauerte, sondern auch, dass der Sozialismus auf unbestimmte Zeit verschoben war. Stalinismus war das, was der Marxismus wurde, nachdem er von der geschichtlichen Trägheit des Kapitalismus verschlungen worden war.
Wir müssen also die Revolution von ihren Ergebnissen befreien. Hat 1917 ein Vermächtnis, das sich von seinen Ergebnissen unterscheidet? Drückte die Revolution ein uneingelöstes Potential, jenseits ihres Scheiterns, aus?
Die herkömmliche Betrachtung von 1917 verzerrt die Geschichte. Zuerst müssten wir uns mit dem beschäftigen, was Lenin die „Spontaneität der Spontaneität“ nannte, d.h. mit den vorausgehenden Bedingungen für die scheinbar spontane Aktion der Massen. Bei der Februarrevolution gibt es den offensichtlichen Punkt, dass sie sich am Internationalen Frauenkampftag formierte: einem Feiertag, der erst kürzlich zuvor von den Marxisten der Zweiten Internationale ins Leben gerufen wurde. Die sozialistische Arbeiterbewegung und die internationale politische Partei für den Kampf um den Sozialismus waren somit Voraussetzungen für den scheinbar spontanen Ausbruch der Revolution 1917. So viel war offensichtlich. Entscheidend jedoch war, wie die Massen im Jahr 1917 diesen sozialistischen Feiertag nutzten, um den Zar zu stürzen.
Keineswegs war die Oktoberrevolution bloß ein geplanter Staatsstreich der bolschewistischen Partei – wir müssen uns daran erinnern, dass sie nicht alleine, sondern im Bündnis mit den linken Sozialrevolutionären (SR) handelten. Am besten lässt sich das dadurch illustrieren, was sich zwischen Februar und Oktober 1917 zutrug: die Juli-Tage, in denen die Massen versuchten, die Provisorische Regierung zu stürzen. Die Bolschewiki beurteilten die Aktion der Juli-Tage als vorschnell. Zum einen sei sie nicht ausreichend vorbereitet gewesen, zum anderen, und dies war entscheidender für sie, hatte die provisorische Regierung ihre politische Rolle nicht völlig erschöpft. Dennoch standen die Bolschewiki im Juli solidarisch an der Seite der Massen, während sie diese weiterhin vor den Problemen und Gefahren ihrer Tat warnten. Der Juli-Aufstand wurde durch die Provisorische Regierung niedergeschlagen, die Bolschewiki wurden politisch unterdrückt und viele ihrer führenden Mitglieder festgenommen. (Lenin selbst tauchte unter – und schrieb während dieser Zeit im Untergrund an seinem Pamphlet „Staat und Revolution“.) Tatsächlich spielten die Bolschewiki in den Juli-Tagen 1917 also eine konservative Rolle, da sie versuchten, die Kräfte der Arbeiterklasse und der breiten Massen vor der Repression der Provisorischen Regierung zu bewahren: eine Gefahr, die sich aus dem verfrühten – aber berechtigten – Aufstand ergab.
Die Oktoberrevolution wurde von den Bolschewiki vorbereitet – gemeinschaftlich mit den linken SR –, nachdem die Massen erfolgreich Widerstand gegen den Staatsstreich des Generals Kornilow geleistet hatten, der versucht hatte, die Provisorische Regierung zu stürzen. Kornilow hatte diesen Staatsstreich als Reaktion auf den Juli-Aufstand hin geplant, der ihm die Schwäche wie Gefahren der Provisorischen Regierung aufzeigte. Dass die Bolschewiki sich an der Verteidigung der Provisorischen Regierung gegen Kornilow beteiligten, bezeichnete Lenin seinerzeit als Unterstützung „wie der Strick den Gehängten unterstützt“. In dem Moment als die Provisorische Regierung offenlegte, dass die entscheidende Basis ihrer Unterstützung gerade die Massen waren, welche sie zugleich unterdrückte, zeigte sich, dass nun die Zeit gekommen war, die Provisorische Regierung zu stürzen.
Und doch war die Oktoberrevolution keine sozialistische Revolution, da die Februarrevolution keine demokratische Revolution gewesen war. Der Regimewechsel – der Umstand, dass der Zar und seine Minister entfernt und durch liberale und moderate „Sozialisten“ ersetzt worden waren – hatte nichts daran geändert, dass der alte zaristische Staat bestehen blieb. Jene moderaten „Sozialisten“ waren die rechten Sozialrevolutionäre, deren Mitglied auch Kerenski war, der bis an die Spitze der Provisorischen Regierung aufgestiegen war. Nach Lenins Verständnis war die Februarrevolution lediglich ein Regimewechsel – die Provisorische Regierung war eine Regierung nur im engeren Sinne des Wortes –, sie hatte nicht den Staat zerschlagen: die „besonderen Formationen bewaffneter Menschen“ blieben unverändert bestehen.
Die Oktoberrevolution war der Beginn des Prozesses, den Staat zu zerschlagen. Die vorher etablierten (zaristischen, kapitalistischen) „besonderen Formationen bewaffneter Menschen“ wurden ersetzt durch die organisierten Arbeiter, Bauern und Soldaten in den Sowjets, als ausführende Organe der Revolution. So sollte ein neuer revolutionärer und radikal demokratischer Staat konstituiert werden: die Diktatur des Proletariats.
Aus der Perspektive Lenins und der Bolschewiki stellte die Oktoberrevolution lediglich den Beginn der demokratischen Revolution dar. So beurteilte Lenin einige Jahre später die Ergebnisse der Revolution auch lediglich unter demokratischen Gesichtspunkten, indem er feststellte, dass der Sozialismus ausblieb und ein Fortschritt der Revolution nicht zu erkennen war. Lenin verstand, dass auch eine erklärtermaßen „revolutionäre“ Regierung nicht einfach eine Revolution herbeiführen kann. 1917 zeigte dies im großen Maßstab.
Die meisten politischen Gegner der Bolschewiki behaupteten, „revolutionär“ zu sein, und tatsächlich erklärten viele, sie seien „Sozialisten“ oder sogar „Marxisten“ – beispielsweise die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre.
Die früheren Verbündeten und Juniorpartner der Bolschewiki in der Oktoberrevolution 1917, die linken SR, brachen mit den Bolschewiki aufgrund der Bedingungen des Friedens, den diese im Jahr 1918 mit Deutschland ausgehandelt hatten. Die linken SR riefen dazu auf, die Bolschewiki in einer „dritten Revolution“ zu stürzen. Sie forderten Sowjets, aber „ohne Parteien“ – was hieß: ohne die Bolschewiki. Wie bereits Engels beobachtet hatte, wurde die Opposition gegen die Diktatur des Proletariats auf der Grundlage sogenannter „reiner Demokratie“ errichtet. Für Lenin und die Bolschewiki hingegen repräsentierten ihre Widersacher keine „demokratische Opposition“, sondern drohten stattdessen lediglich mit der Liquidierung des revolutionär-demokratischen Staates und seiner Ersetzung durch eine Weiße Diktatur. Sollte eine solche zustande kommen, geschähe dies „demokratisch“ – doch demokratisch im Sinne des Bonapartismus. Was die Gegner der Bolschewiki repräsentierten, war also nicht nur die Gefahr, den Kampf um den Sozialismus ungeschehen zu machen – sondern auch die Annullierung der demokratischen Revolution selbst. Was 1848 gescheitert war und 1917 erneut zu scheitern drohte, war: Demokratie.
Marx hatte angemerkt, dass das einzig Originelle, was er entdeckt hatte, die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats gewesen sei. Für Marxisten meinte die Diktatur des Proletariats: derjenigen Notwendigkeit im Kapitalismus Rechnung tragen, die ansonsten im Phänomen des Bonapartismus ihren Ausdruck findet. Die Diktatur des Proletariats sollte jene vom Bonapartismus ausgedrückte politische Krise des Kapitalismus in den Kampf um den Sozialismus umwandeln.
Die Diktatur des Proletariats ist ein auf vielen Ebenen umstrittenes Problem. Zunächst ist die Diktatur des Proletariats keine „Diktatur“ im herkömmlichen Sinne eines undemokratischen Staates. Auch kann die Diktatur des Proletariats im marxistischen Sinne – d.h. die soziale und politische Herrschaft der Arbeiterklasse in ihrem Kampf, den Kapitalismus zum Sozialismus aufzuheben – nur auf globaler Ebene erreicht werden. Dies wäre lediglich möglich als Folge einer Herrschaft der Arbeiterklasse in wenigstens einigen fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten, die ausreichend politische Macht besäßen, um Einfluss auf die ganze Welt auszuüben. Das ist es, was mit dem Begriff „sozialistische Weltrevolution“ gemeint war. Die Russische Revolution von 1917 erreichte nichts, was dem auch nur annähernd gleichgekommen wäre. Dennoch dachten die Bolschewiki, und ihre internationalen Genossen und Genossinnen wie Rosa Luxemburg in Deutschland, dass dies politisch möglich sei.
Die Bolschewiki hatten ihre führende Rolle in der Oktoberrevolution auf die Erwartung gestützt, dass in Europa eine sozialistische Revolution der Arbeiter bevorstand. Die Streikwelle von 1916, die die deutsche Sozialdemokratie gespalten hatte; die wiederholten Aufstände der Soldaten unterschiedlicher Länder an den Fronten des Ersten Weltkriegs: Sie waren Anzeichen nicht nur einer europäischen Revolution, sondern einer, die die ganze Welt umspannen sollte – auch die riesigen Kolonial-Imperien, die die europäischen Mächte besetzt hielten.
Das ist nicht geschehen – und doch sah es zu dieser Zeit nach einer realen und greifbaren Möglichkeit aus. Diese Möglichkeit war das Programm, das in den Jahrzehnten vor 1917 Millionen von Arbeitern und Arbeiterinnen organisiert hatte.
Was also hat die Oktoberrevolution erreicht, wenn auch nicht den „Sozialismus“ oder wenigstens die „Diktatur des Proletariats“? Was machen wir daraus, dass die Revolution von 1917 in den Stalinismus kollabiert ist?
Leo Panitch bemerkte im Januar 2015 in Halifax, auf einem von Platypus ausgerichteten Podium zur Frage „What is Political Party for the Left?“, dass es in der Periode von 1870 bis 1920 zum ersten und bis jetzt einzigen Mal in der Geschichte passierte, dass die subalterne Klasse sich selbst als politische Kraft organisierte. Es war die Periode des Wachstums der sozialistischen Massenparteien in der Zweiten Internationale. Die Oktoberrevolution 1917 in Russland war das höchste und vielleicht auch das einzige Ergebnis der Selbstorganisierung der Arbeiterklasse zu einer politischen Kraft. Die Arbeiterklasse – oder zumindest die politische Partei, die aus ihr hervorging – übernahm die Macht, wenn auch unter sehr ungünstigen Bedingungen und mit ausgesprochen gemischten Resultaten. Schlussendlich schaffte es die Arbeiterklasse nicht, die Macht zu behalten, und die Partei, die sie für diese Revolution organisiert hatte, transformierte sich in die institutionalisierte Kraft dieses Scheiterns. Dies traf auch auf die SPD und ihre Rolle bei der Unterdrückung der deutschen Revolution 1918–1919 zu.
Allerdings hatten die Bolschewiki die Macht übernommen. Und das, nachdem sie sich über Jahrzehnte hinweg mit dem bewussten Ziel des Sozialismus organisiert hatten, nämlich als Marxisten mit einem hohen Grad an Bewusstsein darüber, was dieser Kampf als einer Aufgabe des Kapitalismus bedeutete. Dies war kein utopisches Projekt.
Die Oktoberrevolution von 1917 wurde nicht wiederholt, aber die Februarrevolution und die Juli-Tage wurden in der Zeit danach mehrmals wiederholt. Aus einer marxistischen Perspektive war es in diesem Sinne nicht 1917, was wiederholt – und fortgeführt – wurde, sondern 1848: die demokratische Revolution unter Bedingungen des Kapitalismus, der zu ihrem Scheitern führte. Für Marx war die Pariser Kommune von 1871 die Wiederholung von 1848, die jedoch darüber hinauswies. Die Pariser Kommune deutete sowohl auf Demokratie als auch auf die Diktatur des Proletariats hin, oder, wie Marx es formulierte, auf die Möglichkeit einer „permanenten Revolution“. 1871 ging zurück auf 1848 und verwies gleichzeitig auf Möglichkeiten jenseits davon.
In diesem Sinne hat 1917 ein ähnliches Erbe wie 1871. Hinzu kommt aber ein Paradoxon, eigentlich ein Widerspruch. Denn: Das Fehlen einer politischen Handlungsinstanz in 1871 – d.h. das Fehlen politischer Parteien – führte aus einer marxistischen Perspektive zum Scheitern der Pariser Kommune. Eine solche Instanz wurde in den darauffolgenden Jahrzehnten von der Arbeiterklasse aufgebaut. Der Widerspruch liegt nun darin, dass sich nach 1917 die politische Handlungsinstanz verwandelt, nämlich in eine Institutionalisierung des Scheiterns des Kampfes für den Sozialismus – und zwar im Scheitern der Weltrevolution. Diese Institutionalisierung des Scheiterns war selbst ein Prozess – der in den 1920er Jahren stattfand und bis heute anhält –, der darüber hinaus durch eine obskure Transformation des „Marxismus“ selbst ausgedrückt wurde: Bekennende „Marxisten“ (miss)brauchten und entstellten „Marxismus“, um diese Institutionalisierung des Scheiterns zu legitimieren. Wieso geschah dies? Weil Marxismus selbst ein ideologischer Ausdruck des Kapitalismus ist, und Kapitalismus auf seiner eigenen Grundlage überwunden werden muss. Die einzige Grundlage des Sozialismus ist der Kapitalismus. Marxismus, anders als andere Formen des Sozialismus, ist das Anerkennen dieser Dialektik des Kapitalismus und des Potenzials für den Sozialismus. Kapitalismus ist nichts anderes als das Scheitern der sozialistischen Revolution.
Insofern ist das Erbe von 1917 – als einzigartige, von anderen Revolutionen in der Epoche des Kapitalismus zu unterscheidende; eine Epoche, die spätestens 1848 begann und bis heute andauert – eigentlich das Erbe des Marxismus. Die Ursprünge des Marxismus liegen in der kritischen Verarbeitung der gescheiterten Revolutionen von 1848. 1917 war der einzige politische Erfolg des Marxismus im klassischen Sinne – des Marxismus von Marx und Engels selbst sowie ihrer besten Anhängern in der Sozialistischen bzw. Zweiten Internationale wie Lenin, Luxemburg und Trotzki. Und doch war 1917 aus der Sicht Lenins und seiner Genossen ein sehr beschränkter „Erfolg”, der entstellt wurde, um das Gescheiterte in ihm zu verdecken, und der somit schließlich seinen tatsächlichen Erfolg im Dunkeln ließ. Die unauslöschliche Verbindung des Marxismus mit 1917 verweist auf das Paradox, dass sein Scheitern das gleiche war wie 1848, doch 1917 (und also: Marxismus) sind nur insofern wichtig, als sie über dieses Scheitern hinausweisen. Andernfalls wäre Marxismus unbedeutend, und wir könnten genauso gut Liberale, Anarchisten, utopische Sozialisten oder irgendeine andere Spezies demokratischer Revolutionäre sein – was heutzutage ohnehin (im besten Falle) auf alle zutrifft.
1917 sollte nicht als ein streng nachzuahmendes Muster erinnert werden, sondern als unerfüllte Aufgabe, die sich im geschichtlichen Kampf offenbarte; als ein Potenzial, das zwar – wie kurz und provisorisch auch immer – ausgedrückt, aber schlussendlich betrogen wurde. Mit dem Verschwinden des Kampfs um den Sozialismus ist auch das Erbe von 1917 verschwunden. Seine Probleme und Beschränkungen sowie seine positiven Lektionen erwarten einen wieder aufgenommenen Kampf um den Sozialismus, um angemessen beurteilt werden zu können. Ansonsten bleiben sie abstrakt und kryptisch, leblos, dogmatisch und ein Gegenstand von Gedankentabus und leerem Ritual – was sowohl rituelle Verehrung wie rituelle Verdammung umfasst.
Rosa Luxemburg bemerkte 1918, dass die 70 Jahre, in denen die Arbeiter für den Sozialismus gekämpft hatten, lediglich die Rückkehr zum Moment von 1848 bewirkt hatten. Sie standen vor der Aufgabe, diesen Moment zu berichtigen und somit seine Geschichte zu erlösen. Trotzki hatte beobachtet, dass einzig der Marxismus der Grund dafür war, dass das 19. Jahrhundert nicht umsonst vergangen ist. Heutzutage – mehr als 100 Jahre später – müssen wir anerkennen, wie und weshalb wir so weit davon entfernt sind, das Erbe von 1917 angemessen zu beurteilen: Es gehört nicht mehr zu uns. Wir müssen uns zu 1917 zurückarbeiten und den Moment von 1917 wiedererlangen. Diese Aufgabe ist das Vermächtnis von 1917 an uns. | P
Übersetzung aus dem Englischen von Stefan Hain und Markus Niedobitek