Hans Jürgen Urban trat 1984 in die IG Metall ein und ist seit 2007 geschäftsführendes Vorstandsmitglied. Die Fragen im Interview wurden von Daniel Schultz und Anne Franz erarbeitet. Das Interview selbst führte Daniel Schultz. Beide sind Mitglieder der Platypus Affiliated Society.
Daniel Schultz: Sie bezeichnen sich selbst als Marxisten. Angesichts des Scheiterns des Marxismus im 20. Jahrhundert: Was bedeutet es für Sie, im 21. Jahrhundert Marxist zu sein?
Hans-Jürgen Urban: Ich bin der Auffassung, dass Karl Marx und die marxistischen Debatten nach ihm nicht alle Fragen der Gegenwart beantwortet haben. Aber die Marx’sche Analyse des Kapitalismus ist nach wie vor unverzichtbar, wenn man die gegenwärtige Gesellschaft verstehen will. Man sollte immer wieder mal Marxstudien betreiben, um sich die von ihm und Friedrich Engels herausgearbeiteten Erkenntnisse über die Grundmechanismen kapitalistischer Ökonomien, der Gesellschaft und des Staates im Kapitalismus zu vergegenwärtigen. Trotzdem gibt es natürlich auch Defizite und Leerstellen im Marx’schen Werk, die benannt und intensiv diskutiert werden müssen.
Sie meinen also, Marxismus ist heutzutage immer noch eine Methode zur Analyse der bestehenden Gesellschaft?
Ein Wissenschaftler, der den Kapitalismus des 19. Jahrhundert analysiert, konnte natürlich nicht alle Fragen beantworten, die wir uns heute im 21. Jahrhundert stellen. Insgesamt hat sich die Debatte in der internationalen Linken weiterentwickelt und ausdifferenziert. Nicht alle kapitalismuskritischen Diskurse, die heute auf der Welt geführt werden, gehen auf Marx zurück. So etwa der an Michel Foucault anschließende Poststrukturalismus, der sehr einflussreich in den Feminismus, den Post-Kolonialismus oder die Anti-Rassismus-Forschung der letzten Jahrzehnte ausstrahlte. In dieser Gedankenwelt spielen Diskurs-Analysen und Fragen der Alltagskultur eine prägende Rolle, ökonomische Basisstrukturen und soziale Klassenverhältnisse weniger.
Gleichwohl bin ich der Auffassung, dass insbesondere die Marx’sche politische Ökonomie eine Gesellschaftstheorie sowie ein Ensemble von Theoremen bereitstellt, die nur um den Preis erheblicher Erkenntnisverluste ignoriert werden können. Auf Marx zu verzichten, bedeutet Theorielücken in Kauf zu nehmen, die kaum über die Rezeption anderer Theorien zu schließen sind. Kurzum: Die Marx’sche Kapitalismusanalyse ist notwendig, wenn auch nicht hinreichend.
Worin sehen Sie Leerstellen bei Marx?
Sie lassen sich etwa in den Feldern ausfindig machen, die heute als Ökologie- oder Gender-Forschung benannt werden. Es gibt die sehr interessante Passage im ersten Band des „Kapitals”, in der Marx erkennt, dass die grenzenlose Akkumulationsdynamik den kapitalistischen Produktionsprozess dazu treibt, die beiden Springquellen des Reichtums zu zerstören: den Arbeiter und die Erde. Es gibt bei Marx zwar einzelne Gedanken, an die wir anknüpfen können, aber keine ausformulierte Theorie des Ökologischen.
Ähnlich sieht es mit Blick auf die Geschlechterfrage aus. Auch hier finden sich gerade bei Engels wichtige Hinweise auf die materiellen Grundlagen der Unterdrückung von Frauen. Aber eine Theorie der Diskriminierung von Menschen wegen ihres Geschlechtes oder ihrer sexuellen Selbstdefinition, wie sie heute in der Gender-Debatte entwickelt wird, existiert weder bei Marx und Engels.
Auch muss als Defizit benannt werden, dass Marx zwar oft über den Staat redet, aber es bei ihm keine wirkliche entwickelte Theorie des Staates und des Politischen gibt. Das könnte mit dafür verantwortlich sein, dass viele Marxist*innen sich mit der Staatsanalyse oftmals schwer taten. Auch Marx selbst hätte vermutlich den Beitrag des Wohlfahrtsstaates der Nachkriegsperiode für die Stabilität der kapitalistischen Ökonomie nicht für möglich gehalten.
Viele Linke fordern heute den Wohlfahrtsstaat. Halten Sie das für ein legitimes Anliegen?
Ich halte den Wohlfahrtsstaat für einen zivilisatorischen Fortschritt, ja eine Errungenschaft. Er hat für Millionen von Menschen – trotz aller Probleme und aller Diskriminierungen mit Blick auf Frauen und Migrant*innen – einen Lebensstandard realisiert, der historisch einmalig war. Und er hat durch die De-Kommodifizierung der Arbeitskraft die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften gestärkt. Der Neoliberalismus hat diese Errungenschaften direkt attackiert, er hat die Lohnabhängigen gleichsam enteignet, indem er ihnen ihre durch den Wohlfahrtsstaat verbürgten sozialen Rechte, ihr Sozialeigentum, wegnahm.
Heute erodiert die materielle Basis der Menschen immer weiter. Und mit ihr die Grundlage der politischen Demokratie. Der traditionelle Sozialreformismus hat bisher keine wirkungsmächtige Antwort darauf gefunden. Das ist wohl einer der wesentlichen Gründe für die existenzielle Krise der Sozialdemokratie. Die Linke hat ein Vakuum hinterlassen und die Menschen mit ihrer Verunsicherung alleine gelassen. Die rechtspopulistischen Bewegungen stoßen in diese Lücke. Eine progressive Antwort müsste solidarische Wege aus dieser Misere aufzeigen, ohne Angst vor gegnerischen Medienkampagnen und Machtkonflikten. Zum Beispiel durch eine offensivere Verteilungs- und Reformpolitik, die mittel- und langfristig auch die Besitzverhältnisse in Frage stellt, die immer wieder zu diesen verteilungspolitischen Fehlentwicklungen führen.
Die Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat wäre darauf die richtige Antwort?
Nein, ein „zurück zum traditionellen Wohlfahrtsstaat” wäre eine falsche Antwort. Die unverzichtbare Neuorganisation von Sozialeigentum wird nicht in Form des Sozialstaats der 1970er oder 80er Jahre stattfinden können. Die Bedingungen haben sich grundlegend verändert und auch ein Wohlfahrtsstaat im 21. Jahrhundert muss sich grundlegend verändern.
Erstens kann Sozialschutz und können soziale Rechte von Lohnabhängigen nicht mehr ausschließlich nationalstaatlich organisiert werden. Die Transnationalisierung der Kapitalstrukturen muss dazu führen, dass auch der Schutz der abhängigen Arbeit stärker transnational organisiert wird. Das wird nicht dadurch gelingen, dass man global-gültige Tarifverträge abschließt. Es wird neue Formen der Koordinierung vor allem von Staaten und Gewerkschaften erfordern. Tarifverträge wird es durchaus noch im nationalstaatlichen Rahmen geben müssen. Aber Inhalte und Kämpfe um diese Tarifverträge müssen transnational organisiert werden und transnationale Regelungen herbeiführen.
Zweitens darf der neue, transnationale „Wohlfahrtsstaat des 21. Jahrhunderts” keiner naiven Wachstumsvorstellung aufsitzen, wie es der traditionelle tat. Das ist ökologisch nicht vertretbar, das würde die Grenzen der Natur überfordern.
Und drittens wird der Wohlfahrtsstaat in unserem Jahrhundert auf noch größeren Konflikten beruhen, als es der Sozialstaat des 20. Jahrhunderts tat. Weniger Wachstum bedeutet auch geringere Zuwächse, aus denen verteilt werden kann. Das bedeutet, dass mehr aus Besitzständen umverteilt werden muss und Umverteilungskonflikte dieser Art werden intensiv und hart ausfallen.
Wie verhält sich die marxistische Frage nach der Form des Eigentums zur Forderung nach dem Wohlstaat?
Politik, die Strukturen grundlegend verändern will, muss an den unmittelbaren Bedürfnissen der Menschen ansetzen. Kämpfe für abstrakte Ziele, die nicht aufzeigen, warum sie die konkrete Situation verbessern, gehen in der Regel schief. Trotzdem muss in diesen Auseinandersetzungen an dem Bewusstsein gearbeitet werden, dass die Veränderungen perspektivisch grundlegend sein müssen, wenn man die Probleme lösen will. Das ist in einer Gesellschaft, die durch drei Jahrzehnte neoliberale Hegemonie geprägt ist, eine wahre Herkulesaufgabe. Tageskämpfe und strukturelle Veränderungen müssen verbunden werden etwa durch das, was einmal Übergangsforderungen genannt wurde.
Aber es muss auch erkennbar sein, wohin der Übergang führen soll. Und damit tut sich die Linke heute extrem schwer. Sie hat kaum noch eine Vorstellung von einer alternativen Gesellschaft und sie weiß das Ziel einer systemtransformierenden Politik nicht zu benennen. Der Literat Volker Braun hat das einmal so formuliert: „ … es fehlt uns was, das keinen Namen mehr hat.”1
Sie sind Vorstandsmitglied der IG Metall. Was sind die Aufgaben von Marxisten in Gewerkschaften? Welche verfolgen Sie im Vorstand der IG Metall? Können Sie sie überhaupt verfolgen?
Marxist*innen sind nicht von vornherein die besseren Gewerkschafter*innen. Weder gegenüber denen, die aus einer sozial-katholischen Traditionslinie kommen, noch gegenüber den vielen Sozialdemokrat*innen. Es ist wohl die wichtigste Aufgabe von Marxist*innen in den Gewerkschaften das Bewusstsein wach zu halten, dass eine Politik der kleinen Fortschritte wichtig ist, aber früher oder später an ihre Grenzen stößt, und dass es daher grundlegender Veränderungen bedarf, die bis zu den Eigentums- und Machtverhältnissen vordringen. Zu einer nachhaltigen Emanzipation der abhängigen Arbeit kann es in diesen gesellschaftlichen Strukturen nicht kommen, schon weil jede kapitalistische Krise erkämpfte Errungenschaften wieder infrage stellt. Dazu ist eine Kapitalismuskritik auf der Höhe der Zeit unverzichtbar Das mag abstrakt klingen, ist es aber keineswegs.
Innerhalb der historischen Linken waren Gewerkschaften die „Schule” der Arbeiter für den Klassenkampf. Allerdings konnten, so die marxistische Auffassung, die Arbeiter in ihrem gewerkschaftlichen Kampf nur gewerkschaftliches Bewusstsein ausbilden. Zur Überwindung des Kapitalismus aber bedürfe es mehr als bloß gewerkschaftliches Bewusstsein. Historisch gesehen war es Aufgabe einer Partei, sozialistisches Bewusstsein von außen in die Arbeiterklasse zu tragen und damit das entscheidende Moment zur Überwindung des Kapitalismus beizusteuern. Eine solche Partei scheint gegenwärtig abwesend zu sein.
Was bedeutet diese Abwesenheit der Partei für die Gewerkschaften? Inwiefern haben sich dadurch ihre Aufgaben verändert?
Zunächst ist es ein Dauerproblem der marxistischen und auf Marx aufbauenden Theorie, wie sich die gewerkschaftlichen und die politischen Kämpfe zueinander verhalten. Es gibt diese interessanten Passagen über die „Zehnstundenbill” bei Marx. 2 Darin weist er dem Kampf um die Arbeitszeit nicht nur „tradeunionistische”, also rein gewerkschaftliche, sondern auch politische Potentiale zu. Aber von Lenin bis Gramsci ist es zur klassischen Auffassung geworden, dass der gewerkschaftliche Interessenkampf gegen die „täglichen Gewalttaten des Kapitals” aus sich heraus kein Bewusstsein erzeugt, das über den Kapitalismus hinausweist. Das ist wohl eine richtige Einsicht. Das hat viele Ursachen, auch eine seltsame Dialektik: Erfolge in systemkonformen, materiellen Kämpfen schwächen den Antrieb zur Überwindung des Kapitalismus. Das konnten wir an der Wirkung des Wohlfahrtsstaates in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert sehen. Er wurde durch die Gewerkschaften, die sozialdemokratischen, marxistischen und kommunistischen Parteien erkämpft und hat einen hohen Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung ermöglicht. Aber diese Erfolge haben sicherlich auch dazu beigetragen, das zu schwächen, was man traditionell als Klassenbewusstsein bezeichnet hat. Ein Bewusstsein, das über die kapitalistischen Produktionsverhältnisse hinausweist.
Das hat doch eine enorme Bedeutung für die Gewerkschaften heute.
Die Frage ist: Wie entsteht ein Klassenbewusstsein, das die Transformationsperspektive einschließt, im heutigen Kapitalismus? Die klassische Antwort war, dies der Arbeiterpartei als Aufgabe zuzuschreiben. Aber ich glaube, dass es diese Partei so nicht mehr gibt, weder in Deutschland, noch sonst wo in Europa. Heute stellt sich die Aufgabe neu. Die Gewerkschaften werden nicht einfach an die Stelle der Partei treten können. Gewerkschaften sind von ihrer Natur aus erst einmal interessenspolitische Organisationen. Sie sind als Abwehr- und Selbsthilfeorganisationen gegründet worden, die die unmittelbaren Reproduktionsinteressen der abhängigen Arbeit vertreten. Aus diesen Kämpfen entwickelt sich nicht automatisch transformative Politik. Ich bin auch nicht der Auffassung, dass die Gewerkschaften quasi als Ersatzpartei und über Schulungen einfach neues Klassenbewusstsein erzeugen können.
Was hat sich also verändert?
Drei Jahrzehnte neoliberaler Hegemonie haben in den Köpfen aller Akteure ihre Spuren hinterlassen: bei Gewerkschaften, den Beschäftigten, den Intellektuellen und der politischen Klasse. Im sozial gespaltenen und individualisierten Kapitalismus der Gegenwart ist es viel schwieriger geworden, gemeinsame Interessen zu erkennen. Die Lebenssituationen, die sozialen Lagen und auch die unmittelbar wahrgenommenen Probleme der Menschen haben sich so stark ausdifferenziert und segmentiert, dass gemeinsame Kämpfe und Klassenerfahrungen seltener geworden sind. Gemeinsame Erfahrungen stellen sich heute weniger denn je im Selbstlauf ein. Früher haben die Arbeiter in der fordistischen Fabrik der Massenproduktion viel einfacher in ihrem Arbeitsalltag gemeinsame Erfahrungen gemacht. Heute sind Klassen fragmentiert. Heute arbeiten in einem High-Tech Betrieb oder einem Start-up ebenfalls lohnabhängige Menschen, aber unter ganz anderen Bedingungen.
Dadurch gewinnen gemeinsame Kampferfahrungen und ihre ebenfalls gemeinsame Auswertungen erheblich an Bedeutung. Hier bestätigt sich eine Vorstellung materialistischer Theorie, dass man transformatives Bewusstsein nicht einfach am Schreibtisch erzeugen kann. In der Traditionslinie, in der ich mich verorte, ist das prinzipiell nicht neu.
Sie sprechen von Ihrer Traditionslinie. Meinen Sie damit Wolfgang Abendroth?
In der zweiten Hälfte der 1960er Jahren politisierte sich die Gesellschaft, aber auch die Gewerkschaften. In der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit gab es heftige Kontroversen über die Frage, wie sich ein Bewusstsein in der „Arbeitnehmerschaft” (so nannte man es) erzeugen lässt, das zu mehr anleitet als bloßen Lohnkämpfen. Ein Ansatz ging davon aus, dass ein solches Bewusstsein vor allem über Diskurse, über Schulungen und über „exemplarisches Lernen und soziologische Phantasien” erzeugt werden kann. Das war der Titel eines damals sehr einflussreichen Buchs von Oskar Negt. Es war ein stark ideologiekritisch orientierter Ansatz, indem Diskursen viel, gemeinsamer politischer Praxis und der Auswertung gemeinsamer Kampferfahrungen weniger Bedeutung zukam.
Ein anderer Ansatz betonte stärker, dass Bewusstwerdungsprozesse immer wieder an Konflikt- und Kampferfahrungen rückgekoppelt werden müssen. Das kann nicht alleine über Debatten, über „soziologische Phantasien” oder über das Studium von theoretischen Schriften gelingen. Dieser Ansatz setzte auf „etappenweises Lernen”, das von Kampferfahrungen zehrt. Wolfgang Abendroth war einer von denen, die uns immer gesagt haben: „Ein Tag Streik kann bedeutender sein, als hundert Tage Seminar.”
Aus heutiger Sicht waren die Gegensätze eigentlich nicht unüberbrückbar und beide Ansätze waren sich darüber im Klaren, dass eine Vermittlung zwischen kritischen Theorien und politischer Praxiserfahrung unverzichtbar ist.
Wenn diese gemeinsame Erfahrung erzeugt werden muss, wird sie in einem gemeinsamen Kampf erzeugt werden müssen. Was war der letzte erfolgreich geführte ökonomische Kampf und unterscheidet sich dieser vom letzten erfolgreich geführten politischen Kampf?
Für die IG Metall war die jüngste Tarifrunde 3 ein wichtiger Moment, der wieder stärker auf einer konfliktorientierten Strategie basierte und erfolgreich war. Damit meine ich die durchaus ansehnlichen Entgelterhöhungen, aber vor allem die Arbeitszeitregelung. Diese Tarifrunde war der Wiedereinstieg in eine offensive Arbeitszeitpolitik. Und diese geht neue Wege. In den 80er Jahren kämpfte man für eine pauschale, kollektive Verkürzung der Arbeitszeit für alle. In dieser Runde haben wir versucht, den ausdifferenzierten Interessen der Beschäftigten Rechnung zu tragen – ohne in die Individualisierungsfalle zu tappen.
Der abgeschlossene Tarifvertrag versucht zwei Dinge miteinander zu kombinieren: Einerseits die erkämpfte kollektive Sicherheit des Tarifvertrages, andererseits räumt er individuellen Entscheidungen größere Spielräume ein. Die 28-Stunden-Woche ist also nicht eine pauschale Vorgabe für alle, sondern sie soll Grundlage der individuellen Entscheidungen sein. Die, die wollen, sollen es nicht alleine durchkämpfen müssen, sondern sie sollen ein kollektiv abgesichertes Recht haben, diese Arbeitszeitverkürzung in Anspruch nehmen zu können.
Auf kollektiver Grundlage werden größere Spielräume für individuelle Entscheidungen eröffnet. Es ist der Versuch den ausdifferenzierten Interessenlagen Rechnung zu tragen, ohne die klassenpolitische Perspektive aufzugeben. Die bleibt unverzichtbar. Denn an der asymmetrischen Machtverteilung zwischen Lohnarbeit und Kapital hat sich auch im heutigen digitalisierten Kapitalismus nichts geändert.
Was war das Besondere an der jüngsten Auseinandersetzung?
Die Ablehnung der Arbeitgeber war nicht weniger stark als beim Kampf um die 35-Stunden-Woche 1984/85. Wir konnten die Ablehnung durchbrechen, weil wir auf eine konfliktbereite Strategie setzten. Es gab nicht nur viele kürzere Warnstreikwellen, sondern in vielen Betrieben bundesweit fanden Streiks statt, die 24-Stunden dauerten. Insgesamt haben sich fast 1,5 Millionen Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie an Arbeitsniederlegungen beteiligt. Das hat den Druck herbeigeführt, der zum Abschluss des Tarifvertrags geführt hat.
Ob diese konfliktorientierte Tarifauseinandersetzung quasi von selbst politisch geworden ist, wäre zu diskutieren. Ich würde „Ja” sagen, weil es nicht „nur” um eine materielle Interessenvertretung im engeren Sinne ging. Arbeitszeitkämpfe sind nicht nur materielle Interessenvertretungen, sondern nehmen Einfluss auf die gesellschaftlichen Strukturen. Das ist in dieser Runde gelungen. Und daher bedeutet sie, zumindest in Ansätzen, auch eine Politisierung der Tarifpolitik und der Gewerkschaften.
Historisch war diese Arbeitszeitverkürzung immer verbunden mit einem vollen Lohnausgleich. Inwiefern spielt das in den Überlegungen der IG Metall eine Rolle?
Es wurde kein voller Lohnausgleich vereinbart, sondern Teillohnausgleiche. Entgeltfragen und Arbeitszeitverkürzungen wurden neu kombiniert. Es gibt deutliche Lohnerhöhungen für alle und die Beschäftigten können entscheiden, ob sie Teile davon in kürzere Arbeitszeiten tauschen wollen. Eine 28 Stunden Woche mit vollem Lohnausgleich wäre nicht machbar gewesen, dazu reicht gegenwärtig die Kraft nicht.
Es gibt also Unterschiede zwischen der Arbeitszeitpolitik der 80er Jahre und heute. Diese führen auch dazu, dass ein bei manchen sehr beliebter Analogieschluss nicht sinnvoll ist. Er lautet: Früher war die 35-Stunden-Woche das progressive gewerkschaftspolitische Projekt und deswegen ist es die 28-Stunden-Woche heute. Das springt zu kurz. Die Konfliktsituationen und Bedingungen im Gegenwartskapitalismus haben sich verändert. Man kann die damalige Situation nicht ohne weiteres mit der heutigen vergleichen.
Was hat sich heute geändert?
Tarifregelungen werden nur dann wirkungsmächtig, wenn es uns gelingt den Geltungsbereich des Tarifvertrages zu erhalten und seine Bindekraft wiederherzustellen. Wir haben eine eklatante Erosion des Flächentarifvertrages. Der Schutz durch einen Tarifvertrag ist mittlerweile fast schon zu einem Privileg geworden. Wenn das so bleibt, werden wir überhaupt nicht mehr in der Lage sein, über Tarifpolitik Gesellschaftspolitik zu betreiben, weil wir dann nur noch kleine Segmente der Gesellschaft erreichen.
In welche Richtung müssen die Auseinandersetzungen unter diesen Bedingungen gehen?
Notwendig sind Kampagnen und tägliche Aktivitäten für die Wiederherstellung kollektiv wirksamer Regelungsinstrumente.
Aber die Neuauflage einer Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich hat weitere Voraussetzungen: etwa eine umfassende betriebspolitische Verankerung. Einer Studie vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung zufolge schreitet nicht nur die Erosion des Tarifvertrages voran, sondern es steigt auch die Anzahl von Betrieben ohne Betriebsräte. Und damit schwinden die machtpolitischen Voraussetzungen progressiver Politik. Die Probleme in der Tarifpolitik werden wachsen, wenn wir keine flächendeckende Verankerung in den Betrieben erreichen und Tarifverträge weiter an Kraft verlieren. Unter diesen Bedingungen wird solidarische Politik immer schwieriger.
Das macht Klassenpolitik ungeheuer schwer.
Es führt zu einem grundsätzlichen Problem gewerkschaftlicher oder auch linker Klassenpolitik. Wie kann man heute auf der Grundlage von Klasseninteressen Politik für alle machen? Und wie verhindert man, dass die Politik lediglich einzelne Klassenfraktionen einschließt? Wenn wir die Erosion des Tarifvertrages nicht in Griff bekommen, steigt die Gefahr, dass Tarifpolitik zur Interessenvertretung für eine schrumpfende Anzahl von relativ privilegierten Beschäftigten in Großbetrieben wird. Und die neuen Sektoren abhängiger Arbeit werden nicht erreicht. Das wäre der schleichende Abschied von solidarischer Klassenpolitik. Bevor man über eine große Offensive der kollektiven Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich nachdenkt, sollte man die Erosion des Tarifvertrages stoppen.
Aber steht dem die Praxis der IG Metall nicht manchmal im Weg? Ich erinnere mich an die Leiharbeitstarifverträge von 2016. Daran wurde oft kritisiert, dass sie die Stammbelegschaften schützen und die Leiharbeiter vernachlässigen würden. Außerdem wurde kritisiert, dass sie die gesetzliche Höchstdauer der Leiharbeit von 18 Monaten unterminieren, da sie auf 24 bzw. vereinzelt auf 48 Monate erhöht werden kann.4 Gibt es da nicht ein Spannungsverhältnis zwischen Ihren Vorstellungen und der realen Praxis der IG Metall?
Ein solches Spannungsverhältnis ist immer da, und es ist nicht sinnvoll, es zu leugnen. Es ist nicht einfach, die Interessen der unterschiedlichen Fraktionen der Lohnabhängigen in Übereinstimmung zu bringen und politische Projekte zu formulieren, in denen sich die Interessen bündeln. Am Beispiel der Leiharbeit kann man das sehr gut zeigen.
Die IG Metall hat vor einigen Jahren den gewerkschaftlichen Kampf gegen Leiharbeit zu einem der zentralen Themen erhoben: „Gleiche Arbeit, gleiches Geld, gleiche Rechte” war der Slogan. 5 Wir wollten durch die Organisierung der Leiharbeiter*innen Tarifverträge abschließen, Schutzregeln erwirken. Und wo immer möglich, wollten wir die Leiharbeit beseitigen, indem die Leiharbeiter in die Stammbelegschaft überführt werden.
Das hat nicht gut funktioniert. Es ist uns nicht gelungen, die Leiharbeiter*innen so zu organisieren, dass genügend Verhandlungsmacht entstanden wäre. Wir mussten also die Schlussfolgerungen ziehen und die Interessenvertretung der Leiharbeit zum Thema aller Beschäftigten machen. Auf dieser Grundlage wurden Tarifregelungen durchgesetzt. Diese haben zwar nicht sofort zu gleichem Lohn und gleicher Behandlung geführt, aber über Branchenzuschläge und weiterreichende Regelungen ist es dennoch in vielen zu einer Gleichstellung mit den Stammbeschäftigten gekommen. Das war weitgehend ein Stellvertreterkampf, den die Stammbelegschaft und ihre Betriebsräte für die Leiharbeiter geführt haben. Das war Solidarität konkret. Der Effekt war, dass sich viele Leiharbeiter in der IG Metall organisiert haben. Über 50 000 Beschäftigte aus der Leiharbeitsbranche sind bei uns Mitglied.
Sie wollten gewerkschaftliche Politik auch mit anderen Auseinandersetzungen verknüpfen. Dafür haben Sie den Begriff „Mosaik-Linke” geprägt.
Die Gesellschaften im gegenwärtigen Kapitalismus differenzieren sich aus und die Probleme werden komplexer. Wie man dem begegnen soll, das wissen Gewerkschaften mitunter ebenso wenig wie Parteien oder Intellektuelle. Doch die theoretische Analyse des Kapitalismus zeigt uns eine verbindende Dynamik auf: die Dynamik der finanz-kapitalistischen Akkumulation. Alle Bereiche der Gesellschaft werden ökonomisiert, die Hochschule genauso wie die Betriebe oder das Gesundheitswesen. Die Idee der Mosaiklinken rät allen Akteuren, erst einmal im eigenen Feld um Gegenmacht zu kämpfen, aber sich zugleich gegen die gemeinsame Ursache zu organisieren, an der alle zu leiden haben. Sie müssen innerhalb der unterschiedlichen Felder die Gemeinsamkeiten herausfinden und sich auf eine gemeinsame Politik gegen die allumfassende Ökonomisierung beziehen. Das ist die Kernidee der Mosaik-Linken.
Sie haben diesen Begriff vor gut zehn Jahren geprägt. Damals waren Sie sich keinesfalls sicher, dass sich ein gemeinsamer Akteur herausbilden wird. Wie denken Sie heute darüber nach? Hat sich die Mosaik-Linke bewährt?
Die Bilanz fällt eher ernüchternd aus. Ich glaube nicht, dass man in Deutschland und Europa wirklich von einer Mosaik-Linken sprechen kann. Es hat sich herausgestellt, dass die Menschen, aber auch Parteien und Organisationen zu stark in ihren eigenen politischen Feldern gefangen bleiben. Eine gemeinsame Perspektive wurde immer wieder durchkreuzt und es gibt kaum gemeinsame Aktivitäten. Die Kämpfe gegen eine neoliberale Ökonomisierung der Hochschulbildung wurden beispielsweise kaum mit der Auseinandersetzung in den Betrieben verbunden. Und beide haben sich nicht auf die transnationale Blockupy-Bewegung bezogen, obwohl doch alle durch die gleiche Dynamik der Ökonomisierung bedrängt werden. Die Kooperation der Akteure erweist sich mitunter als schwieriger, als wir es erhofft haben.
Das klingt nicht sehr hoffnungsvoll…
Die Linke in Deutschland steckt zurzeit in einer strukturellen Krise: Weder innerhalb der Parteien oder den Gewerkschaften, noch in der Zivilgesellschaft sind Akteure zu erkennen, die eine Mosaik-Linken initiieren könnten. Ich bin da gegenwärtig nicht sehr optimistisch.
Besteht diese Krise der Linken nur in Deutschland oder weltweit?
Ich befürchte, weltweit. Wir durchleben gegenwärtig eine paradoxe historische Situation. Auf der einen Seite sehen wir immer deutlicher, dass der globale Kapitalismus nicht in der Lage ist, die Menschheitsprobleme zu lösen. Auf der anderen Seite ist die globale Linke stark fragmentiert und scheint immer weniger in der Lage zu sein, in die Mechanismen dieses globalen Kapitalismus einzugreifen. Der Kapitalismus schafft sich seine eigenen Probleme. Aber die Linke steht daneben und kann diese Probleme kaum produktiv aufgreifen.
Ist das Konzept der Mosaik-Linken damit überholt?
Nein, die Mosaik-Linke ist zumindest als eine regulative Idee linker Politik nach wie vor aktuell. Es bleibt sinnvoll, die Kräfte gegen die destruktiven Auswirkungen des gegenwärtigen Kapitalismus zu sammeln. Vielleicht braucht es etwas mehr historische Geduld. Und vielleicht sollten wir uns an Antonio Gramsci orientieren, der einmal sagte: „Jeder Zusammenbruch bringt intellektuelle und moralische Unordnung mit sich.”6 „Man muss nüchterne, geduldige Leute schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.”7 | P
- Braun, Volker: Die Verhältnisse zerbrechen. Dankesrede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000. www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/volker-braun/dankrede ↩
- Marx, Karl: Das Kapital, Band 1, MEW 23, S.297ff. ↩
- Gemeint ist die Tarifrunde der IG Metall 2018 in der Elektro- und Metallindustrie. Dort wurde zum ersten Mal seit 1984 wieder die Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung erhoben. ↩
- S. IG Metall über den Abschluss: www.igmetall.de/26-2017-25361.htm ↩
- S. zur Kampagne: www.igmetall.de/0160093_2010_05_10_kompakt_A15_45d59d63fd81d6dea2d986689eae3a7c319cf9cf.pdf ↩
- Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, Bd. 1, Hamburg 1991, S. 136. ↩
- Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, H. 28, §11, 2232. ↩