Volkmar Sigusch, Jg. 1940, gilt als einer der bedeutendsten Sexualforscher der Welt. Er war von 1973 bis 2006 Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der J. W. Goethe-Universität Frankfurt/M. sowie Professor für Spezielle Soziologie (Soziologie der Sexualität) im dortigen Fachbereich Gesellschaftswissenschaften. 1973 war Sigusch Mitbegründer der International Academy of Sex Research und 1988 der Zeitschrift für Sexualforschung. Sein Buch Ergebnisse zur Sexualmedizin war 1972 das weltweit erste Buch, das „Sexual Medicine” oder „Sexualmedizin” im Titel führt. Sein Buch Die Mystifikation des Sexuellen wurde 1992 in die Pariser Encyclopédie philosophique universelle als ein Werk des Jahrhunderts aufgenommen. Über 40 Jahre lang gab Sigusch die Beiträge zur Sexualforschung mit heraus. Bisher verfasste er mehr als 800 wissenschaftliche Arbeiten, darunter 42 Monographien. Seine Werke sind in viele Sprachen übersetzt worden. Im Mai 2019 wird im Campus Verlag Kritische Sexualwissenschaft. Ein Fazit erscheinen. Das Interview wurde per E-Mail von Stefan Hain durchgeführt. Er ist Mitglied des Berliner Chapters der Platypus Affiliated Society.
Stefan Hain: Herr Sigusch, 50 Jahre nach \‘68: Führt die Linke heute einen Kampf für sexuelle Freiheit?
Volkmar Sigusch: Nicht, dass ich wüsste.
Sie haben in den 60er Jahren bei Horkheimer und Adorno studiert. Seit den 70er Jahren haben Sie immer wieder mit ehemaligen Mitgliedern des SDS wie Reimut Reiche und Günter Amendt zusammengearbeitet. Wie war Ihr Verhältnis zur „Neuen Linken”? Wo sahen Sie Gemeinsamkeiten und wo Unterschiede in Ihren Positionen und Methoden?
Wir hatten etliche Differenzen. Ich denke vor allem, weil ich in der DDR aufgewachsen bin und dort als Student in Berlin eine „Widerstandsgruppe” gebildet hatte, in der wir heimlich in einem Keller verbotene Schriften lasen, zum Beispiel die philosophischen Frühschriften von Karl Marx, die in der DDR verboten waren und die ich vom Büchertisch der Westberliner Freien Universität besorgt hatte. Schriften von Karl Marx verbieten ‒ ich war außer mir vor Zorn. Als ich dann als junger Professor in Frankfurt am Main Vorlesungen über eine Theorie der Sexualitäten aus biopsychosozialer, aber vor allem kapitalismuskritischer Sicht hielt, sprang in der Diskussion ein ehemaliger Vorsitzender des SDS auf und schrie: Der Sigusch hätte auch Latein reden können, ich habe kein Wort verstanden. Ich antwortete: Daran können Sie erkennen, wie bescheiden das theoretische Niveau des SDS ist, denn ich habe mich gerade auf Kernaussagen von Karl Marx bezogen.
Um bei diesem Punkt zu verweilen: Welche Rolle spielt der Marxismus für eine Theorie der Sexualität?
Marx war auch einmal von einer Hoffnung auf Übergang und Revolution durchdrungen wie damals Adorno von einer Hoffnung auf Auferstehung, obgleich er wie kein Zweiter die transzendentale Allgemeinheit der Vernunft als Reflexionsform der Verdinglichung durchschaute. Heute ist der Prozess der Verdinglichung nicht mehr in einem Bereich der Gesellschaft zu lokalisieren. Marx hat zwar beschrieben, wie Beziehungen von Personen in Verhältnisse von Sachen transferiert werden, sodass tote Dinge ein Eigenleben führen und die Individuen nicht mehr voneinander, sondern von Abstraktionen abhängig sind – im Wesentlichen aber more oeconomico, im Rahmen der Waren- und Tauschverhältnisse, nicht generell. Er konnte sich sogar die Selbstauflösung des Kapitals vorstellen, und zwar dann, wenn Wissenschaft und Technik zu einer direkten Produktivkraft würden. In diesem Fall sah er seine Werttheorie an die Grenze ihrer historischen Gültigkeit gelangen. Dieser Fall ist nicht nur eingetreten, sondern übertroffen worden. Und „das Kapital” spottet realitätsgerechter als je zuvor in seiner Geschichte aller Theorien seiner Selbstauflösung.
Da geht mir durch den Kopf: Kein Denker unserer Vorfahren ist so schandbar behandelt worden wie der exilierte Jude Karl Marx. Auch ist kein ingeniöses Werk so missbraucht und verfälscht worden wie das von Marx. Als ein Kind des 19. Jahrhunderts konnte Marx einige Schatten der Zeit nicht überspringen, zum Beispiel, wenn es um revolutionsromantische oder unkritisch patriarchale Vorstellungen ging. Jenseits solcher Bereiche war er kein Prophet, wie seine Gegner behaupteten, sondern ein unverbesserlicher Optimist, davon überzeugt, eine freie Menschheit werde aus dem Kapitalismus selbst mit Naturnotwendigkeit hervorgehen. Die Kernthesen seiner Kapitalanalysen aber, logisch und sprachlich brillant vorgetragen, treffen bis heute zu, weil der Kapitalismus trotz aller Umbrüche seine Grundstruktur nicht verändert hat. Das Kapital ist heute das Goldene Kalb, um das getanzt wird. Es ist das Ineffabile, das nicht zu fassende der Gegenwart, das das Tabu und Gott abgelöst hat. Alles wird angeboten, verkauft, vermietet oder verwertet. Die einen verkaufen Security oder Jungfrauen, die anderen vermieten Geschlechtsteile.
1972 gründeten Sie das Institut für Sexualwissenschaft am Universitätsklinikum Frankfurt am Main, das Sie leiteten, bis es – pünktlich zum Zeitpunkt Ihrer Emeritierung im Jahr 2006 – trotz großen Protests geschlossen wurde. Was war der initiale Grund, das Institut zu gründen, und was versprachen Sie sich von einer solchen Institution?
Entscheidend für die Gründung war natürlich nicht, was ich mir wünschte. Entschieden haben sozialdemokratische Wissenschaftler in Hessen, insbesondere der damalige Kultusminister Ludwig von Friedeburg, der ja aus dem Horkheimer-Adorno-Institut kam. Ich selbst hatte die Hoffnung, in der Medizin etwas verändern zu können. Schließlich hatte ich zusammen mit Doktoranden bereits empirisch nachgewiesen, dass die allermeisten Ärzte keine Ahnung hatten, wenn es um sexuelle und geschlechtliche Probleme und Erkrankungen ging. Ich hatte mir auch schon durch meine Veröffentlichungen über das Versagen der Mediziner den heftigen Zorn der Ärztekammerchefs zugezogen. Die wollten mir die Approbation, die Zulassung als Arzt, entziehen. Sie wollten natürlich auch meinen Versuch, das Fachgebiet Sexualmedizin zu begründen, verhindern. Schließlich teilte die Library of Congress schon damals mit, dass ich das weltweit erste Buch veröffentlicht habe, dessen Titel „Sexualmedizin”, in welcher Sprache auch immer, enthält.
Das Institut stellte auch einen Versuch dar, so scheint es mir zumindest, Teile der Kritik der „Neuen Linken” im akademischen Bereich zu verankern. Das Ende des Instituts hingegen wirft die Frage auf: Gab es eine Chance für den „langen Marsch durch die Institutionen”? Welche praktischen Konsequenzen ergeben sich Ihrer Meinung nach für ähnliche Versuche heute? Kann es solche überhaupt geben?
Ich denke, es muss immer versucht werden, wobei es in der Medizin nach meiner Erfahrung extrem schwierig ist – heute wie vor Jahrzehnten. In den Sozialwissenschaften gab es und gibt es auch heute sehr viel eher eine Chance. Als ich die medizinische Professur in Frankfurt bekam, bestanden namhafte Frankfurter Soziologen wie Iring Fetscher, Alfred Lorenzer und Ulrich Oevermann darauf, dass es ein extrem seltenes Verfahren der Zweitberufung gab, durch das ich gleichzeitig auch „Professor für Spezielle Soziologie (Soziologie der Sexualität)” wurde.
Welche Bedeutung sollte das Thema Sexualität heute für linke Politik haben?
Ich denke, eine zentrale, weil es ja grundsätzlich um allgemeine Gerechtigkeit und individuelle Selbstsicherheit geht, wenn ich nur an den männlichen gewalttätigen und übergriffigen Sexismus denke und an die allgemeine und rechtliche Missachtung von geschlechtlichen und sexuellen Abweichungen.
In Ihrem Buch Die Mystifikation des Sexuellen von 1984 beschreiben Sie, welchen formativen Einfluss die Warenform als zentrale Kategorie des Kapitalismus auf die Sexualität der Menschen und der Menschheit hat. Dabei legen Sie Wert darauf, diesen Einfluss nicht nur in seinen negativen Auswirkungen, sondern auch in seinem Potenzial angemessen darzustellen. Welche Rolle spielt Kapitalismus für die sexuelle Freiheit?
Da es dem Kapitalismus wurscht ist, was die Gesellschaftssubjekte tun, solange sie nicht seine Gewinnchancen negativ tangieren, konnten sich ja etliche Liberalisierungen in den letzten Jahrzehnten entfalten, die ich unter dem Begriff „Neosexuelle Revolution” beschrieben habe.
Ja, in den letzten Jahrzehnten hat sich die allgemeine Wahrnehmung von Sexualität stark verändert. Homosexualität wurde entkriminalisiert, die „Ehe für alle” auch in Deutschland offiziell eingeführt. Transsexualität wird im populären Diskurs nicht mehr hauptsächlich als „body horror” dargestellt. Stattdessen ziert Caitlyn Jenner als Transfrau das Cover der Zeitschrift Vanity Fair. Dennoch scheint die Frage, ob Sexualität heute offener und freier ist als vor 50 Jahren, alles andere als klar zu beantworten. Gerade in den letzten Jahren werden Forderungen laut, dass Sexualität reguliert werden müsse – Apps, die den „mutual sexual consent” dokumentieren, sind dafür nur ein Beispiel.
Dem kann ich überhaupt nicht widersprechen. Die Liberalisierungen im Zuge der neosexuellen Revolution sind keine Freiheiten im kritischen Sinne, sondern, wie gesagt, Liberalisierungen ohne Fundament. Es geht dabei um eine Vielzahl miteinander vernetzter Prozesse, die Neosexualitäten und Neoallianzen hervorbringen, und zwar vor allem durch Dissoziationen der sexuellen Sphäre, Dispersionen der sexuellen Fragmente und Diversifikationen der Beziehungsformen, sodass wir jetzt auf Geschlechter, Vorlieben und Beziehungen stoßen wie Agender, Liquid Gender, Zissexuelle, Cougars, Felching, Dogging, Silver Sex, Sapiosexuelle, Love-Scammer usw., usf., die ich in meinem Buch Das Sex-ABC einzeln beschreibe und für die ich manchmal erst Bezeichnungen erfinden musste, die inzwischen – wie zum Beispiel cissexual und cisgender – ins Oxford English Dictionary aufgenommen worden sind.
{.wp-image-28821}
Wie sollte eine Linke im 21. Jahrhundert mit den Widersprüchen der sexuellen Freiheit umgehen?
Kritisch, aber im persönlichen Einzelfall zugleich gelassen. Das Individuum, das ich gerne mit Sartre universel singulier, einzelnes Allgemeines, nenne, ist zugleich belastet und entlastet, weil die Objektive, die die Gesellschaft wie das Bewusstsein der einzelnen Allgemeinen konstituieren, jede Individualität in eine exzentrische Position zwingen. Unter einem „Objektiv” verstehe ich eine gesellschaftliche Installation, in der sich materiell-diskursive Kulturtechniken, Symbole, Lebenspraktiken, Wirtschafts- und Wissensformen auf eine Weise vernetzten, die eine historisch neuartige Konstruktion von Wirklichkeit entstehen lässt. Der Begriff ist an Foucaults „Dispositiv” angelehnt; allerdings steht hinter Foucaults Theorem seine Philosophie der Macht. Da diese den Faden der Kritik der politischen Ökonomie abreißen lässt, spreche ich lieber von „Objektiven” als von „Dispositiven”. Weil für den Gang der Gesellschaft immer belangloser ist, was die einzelnen Allgemeinen fühlen und denken, können sich sexuelle Orientierungen, Verhaltensweisen und Lebenswelten pluralisieren, sofern nicht diskursive Überhänge aus vergangenen Zeiten oder querliegende Objektive, wie in unserem Zusammenhang vor allem der Sexus potior-Sexismus, im Wege stehen, Objektive, die nicht allein wertanalytisch begriffen werden können.
Kann es in Ihren Augen eine „menschenwürdige Sexualität” im Kapitalismus geben?
Ja, aber immer nur fragmentarisch im Einzelfall. Denn das Wunderbare ist: Liebe kann der Kapitalismus weder herstellen noch verkaufen.
Was müsste sich ändern, damit eine menschenwürdige Sexualität allgemein entstehen könnte?
Entscheidend wäre die Entfaltung einer Ars erotica, das heißt einer allgemeinen Liebes- und Sexualkultur samt Gleichstellung aller Geschlechter und Menschen, also eine Kultur, die wir bisher nicht hatten. In einem menschenverachtenden und räuberischen Gesellschaftssystem wie dem Kapitalismus kann es eine solche erotische Liebes- und Sexualkultur nicht geben. Là-bas. | P