Horkheimer über Lenins „Empiriokritizismus"


Max Horkheimers Reaktion von 1928/29 auf Lenins erkenntnistheoretische Streitschrift „Materialismus und Empiriokritizismus"

Die Platypus Review #3 | October 2016

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Materielle Basis

In Max Horkheimers nachgelassenen Schriften findet sich ein um 1928 angefertigter, aber zu Lebzeiten unveröffentlichter Aufsatz, dessen Gegenstand Lenins im Jahre 1927 erstmals in einer deutschen Übersetzung erschienenes philosophisches Hauptwerk Materialismus und Empiriokritizismus ist und dessen Herausgabe durch den Horkheimer-Schüler und -Nachfolger Alfred Schmidt vorgenommen wurde.1 Den editorischen Vorbemerkungen Alfred Schmidts lässt sich entnehmen, dass Horkheimers Stellungnahme zu Lenins erkenntnistheoretischer Streitschrift wohl im Wintersemester 1928/29 entstanden sein dürfte, als der bereits habilitierte Privatdozent an der Frankfurter Universität eine Lehrtätigkeit ausübte. Die zugrunde liegende Handschrift, der ursprünglich eine Überschrift fehlte, befindet sich in einem Heft, das dann als Vorlage für eine 17-seitige (handschriftlich korrigierte) Schreibmaschinenabschrift verwendet wurde. Erhalten hat sich darüber hinaus noch ein weiteres (textlich eigenständiges) elfseitiges Maschinenmanuskript, das (wohl im Sommersemester 1928) als Vorlage für einen Vorlesungstermin gedient zu haben scheint.2

Horkheimers kritische Auseinandersetzung mit Lenins erkenntnistheoretischer Polemik fällt für den noch relativ jungen Privatdozenten in eine Lebensphase, in der er im akademischen Betrieb gerade Fuß fasst; so wurde der 1895 geborene Horkheimer im Jahre 1922 mit einer Arbeit zu Kants Antinomie der teleologischen Urteilskraft promoviert – habilitiert wird er im Jahre 1925 mit einer Arbeit über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. Beide akademische Arbeiten Horkheimers werden von dem Neokantianer und Immanenzphilosophen Hans Cornelius betreut, der an der damals noch sehr jungen Frankfurter Universität einen Lehrstuhl für Philosophie innehat und gegen den Lenin in Materialismus und Empiriokritizismus mit scharfen Worten polemisiert. Für den Frankfurter Kantianer, der von Lenin in nicht eben sehr höflicher Weise als „Wachtmeister auf dem Professorenkatheder” („урядник на профессорской кафедре”3) beschimpft wird, war Horkheimer auch als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig – demnach könnte es fast so scheinen, als hätten wir in Frankfurt mit Lenin noch eine alte Rechnung offen.

Horkheimers Manuskript von 1928/29 könnte man in drei Abschnitte unterteilen: Im ersten Teil seines Lenin-Manuskripts liefert uns Horkheimer eine objektiv widerspiegelnde Darstellung der (gegen den österreich-ischen Physiker Ernst Mach gerichteten) Argumentation von Materialismus und Empiriokritizismus; auf diesen ref–e–r–ier–end darstellenden ersten Abschnitt folgt dann ein zweiter, in dem Horkheimer Lenins antimachistische Argumentation einer scharfen Kritik aussetzt – im letzten (und kürzesten) Abschnitt seines Manuskripts macht Horkheimer schließlich deutlich, dass er, obwohl er in Lenins Argumentation ernsthafte Mängel zu erkennen glaubt, Lenins philosophisches Anliegen dennoch ernst nimmt, weshalb er Materialismus und Empiriokritizismus auf gar keinen Fall als veraltet oder nicht mehr zeitgemäß abgetan wissen will.

Widerspiegelung des Widergespiegelten

Als erkenntnistheoretischer Dreh- und Angelpunkt von Materialismus und Empiriokritizismus kann die folgende (auch von Horkheimer aufgegriffene) zentrale Textstelle aus Friedrich Engels’ Feuerbach-Schrift aufgefasst werden:

Diejenigen, die die Ursprünglichkeit des Geistes gegenüber der Natur behaupteten, also in letzter Instanz eine Weltschöpfung irgendeiner Art annahmen[…], bilden das Lager des Idealismus. Die anderen, die die Natur als das Ursprüngliche ansahen, gehören zu den verschiedenen Schulen des Materialismus.4

Horkheimer führt aus: „Natur, Materie, Objektivität sind Bezeichnungen für die von den positiven Wissenschaften erforschte Realität, deren Erkenntnis in den jeweils fortgeschrittensten Theorien einen vorläufigen Ausdruck findet.”5

In den Jahren um 1900 durchliefen die bis dahin akzeptierten Vorstellungen von Materie grundlegende Veränderungen. Das Atom (so sagte man damals) begann, sich aufzulösen; an seine Stelle traten Wellen und Schwingungen – die Materie entmaterialisierte sich. Alfred Schmidt erläutert in seiner im Jahre 1962 veröffentlichten Doktorarbeit, dass „im Zusammenhang mit den einschneidenden Neuentdeckungen der Physik um die Jahrhundertwende allgemein vom ‚Verschwinden der Materie‘ und der künftigen Unmöglichkeit eines philosophischen Materialismus gesprochen”6 wurde – dies war die wissenschaftsideologische Gemengenlage, auf die Lenin mit seiner philosophischen Stellungnahme reagierte, um den Forderungen nach einem theoretischen Umbau des Marxismus (unter Verzicht auf seine materialistische Grundlage) energisch entgegenzutreten.

In Materialismus und Empiriokritizismus konfrontiert Lenin uns daraufhin mit einer vielleicht etwas ungewohnt erscheinenden minimalistisch weiterentwickelten Definition von Materie, mit der er (in Reaktion auf das scheinbare Verschwinden der Materie in der damals neuen Physik) eine Präzisierung bzw. Öffnung des Materiebegriffs in Hinblick auch auf nichtstoffliche Existenzformen der Materie vornimmt. Unter den von Lenin philosophisch gefassten Materiebegriff fallen dann nicht nur bloß stoffliche Seinsformen der Materie, sondern auch solche in Form von Wellen, Schwingungen und Energie.

Nach Lenin, und auf diese Textstelle weisen auch Horkheimer und Alfred Schmidt hin, besteht „die einzige ‚Eigenschaft’ der Materie, an deren Anerkennung der philosophische Materialismus geknüpft ist,” nun lediglich in der „Eigenschaft, objektive Realität zu sein, außerhalb unseres Bewußtseins zu existieren.”7

Der philosophische Materiebegriff ist hiernach nicht mehr starr an den jeweiligen Entwicklungsstand der Naturwissenschaft gebunden. Horkheimer erläutert: „Die Verabsolutierung einzelner Phasen des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses führt zur statischen Metaphysik, die Leugnung der Existenz von Wahrheit zum relativistischen Agnostizismus.”8 Nach materialistischer Auffassung hat jede wahre Theorie, trotz aller ihrer Fehler und relativer Unzulänglichkeiten, in dialektischer Weise einen objektiven (aber unvollständigen) Anteil an der transsubjektiven absoluten Wahrheit, „insofern sie ein notwendiges Moment des Fortschritts in der Erkenntnis bildet, denn durch sie produzieren wir nicht nur Schein, sondern nähern uns einem exakten Bild der Wirklichkeit.”9 Wie Horkheimer weiter referiert, ist jede Theorie „der Korrektur durch die Praxis ausgesetzt. Diese dialektische Auffassung unterscheidet Lenin von denjenigen Materialisten, die bestimmte Ansichten über die Atomstruktur usw. als endgültig betrachten.”10 Nach Horkheimer versteht Lenin wissenschaftliche Forschung „als Annäherung an die adäquate Erkenntnis der intersubjektiven, dem Bewußtsein der Menschen gegenüber transzendenten Wirklichkeit […], und zwar als einziger Weg zur Erkenntnis der einzigen Wirklichkeit.”11 Wie Horkheimer hervorhebt, ist Ernst Mach

in Lenins Überzeugung reiner Idealist, seine Philosophie im wesentlichen eine bloße Neuauflage der Berkeleys. Für Mach sind unsere Empfindungen zugleich auch die Elemente der materiellen Welt. Die natürlichen Dinge sind Zusammenhänge von Empfindungen, das Ich selbst ist ein relativ beständiger ‚Komplex von Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen.’12

Die Lehre des österreichischen Physikers, auf den die Empiriokritizisten in der russischen revolutionären Sozialdemokratie (die irrigerweise sich weiterhin für Marxisten hielten) sich gegen Lenin beriefen, wird von Horkheimer in folgender Weise weiter paraphrasiert:

Es ist für Mach nicht so, daß eine identische Wirklichkeit im Bewußtsein der [unterschiedlichen] Menschen sich spiegelt, daß die verschiedenen Wahrnehmungen mehrerer Personen jeweils einem sich gleichbleibenden objektiven Ding als dem Original entsprächen; diese Ansicht bedeutet für Mach ebenso wie für seinen Vorgänger Berkeley eine ganz nutzlose Verdoppelung der Welt.13

Hier könnte vielleicht deutlich werden, inwiefern Ernst Mach durchaus als Wegbereiter später auf ihn folgender positivistischer, antirealistischer und wirklichkeitskonstruktivistischer Auffassungen in der Erkenntnistheorie angesehen werden kann – auch wenn diese heutzutage nicht mehr unter dem Etikett des „Empiriokritizismus” auftreten. Horkheimer referiert weiter:

Die ‚Entgegenstellung von Schein und Wirklichkeit, von Erscheinung und Ding’ soll dem ungenauen vulgären Denken entsprechen. Wovon wir wissen, sind nicht bewußtseins-transzendente Dinge, sondern in letzter Linie immer nur unsere Empfindungen und ihre funktionalen Beziehungen.[…] Auf unsere Empfindungen bezieht sich unser ganzes Wissen. Sie sind die letzten Tatsachen selbst[…].14

Würden wir Horkheimer als Schiedsrichter ansehen, der im philosophischen Wettstreit zwischen Mach und Lenin den Urteilsspruch zu fällen hat, dann sähen wir Lenin gegen Mach hier sozusagen in Führung gehen – Horkheimer jedenfalls urteilt über Machs Erkenntnislehre so:

Auf diese Philosophie findet die Engelssche Definition des Idealismus zweifellos Anwendung. Die Empfindungen und nicht die Natur gelten ihr als das Primäre, die Welt der materiellen Dinge als ein Produkt begrifflicher Ordnungen des Gegebenen[…]. Machs Gedanken entsprechen genau der von Engels bekämpften idealistischen These der ursprünglichen Identität von Denken und Sein. Der Empiriokritizismus läuft daher den philosophischen Ansichten von Marx und Engels tatsächlich zuwider.15

Nach Lenins Ansicht verwickele Mach sich außerdem in Widersprüche, wenn er stets dann, sobald er als Physiker Naturerforschungen betreibt, „wie die meisten Naturforscher ‚instinktiv auf dem Standpunkt der materialistischen Erkenntnistheorie’” steht, wohingegen „seine philosophischen Grundsätze[…] dagegen reinster Idealismus” seien.16 Als entscheidendes Argument gegen Mach könne insbesondere auch die Unverträglichkeit seiner Lehre mit der objektiven Wirklichkeit von biologischer Evolution und Humangeschichte betrachtet werden; mit Blick auf diese Schwachstelle in Machs Erkenntnistheorie fragt Horkheimer: „Wie kann Mach die Wirklichkeit der menschlichen und der Naturgeschichte zugestehen, obwohl nach ihm ‚der ganze Zeitverlauf nur an die Bedingungen der Sinnlichkeit gebunden’ ist?”17 — diesbezüglich gelangt Horkheimer zu dem für Mach recht ungünstigen Urteil: „Lenins Überzeugung, daß mit dieser Lehre die Realität der Geschichte nicht verträglich sei, rührt in der Tat an die schwächste Stelle dieser Philosophie.”18

Kritik der Kritik

Dass Horkheimer an zentralen Punkten Lenin Recht gibt gegen Mach, bedeutet allerdings nicht, dass er mit Lenin in jeder Hinsicht übereinstimmt; stattdessen lässt Horkheimer auf Lenins Kritik an Mach nun eine mindestens ebenso scharfe Kritik an Lenins eigenen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen folgen. So wirft Horkheimer Lenin vor, dass sein Materialismus in erkenntnis-theoretischer Hinsicht naiv und undialektisch sei und daher hoffnungslos hinter dem bei Marx, Engels und Feuerbach in dieser Hinsicht bereits Erreichtem zurückbleibe. Horkheimer unterlässt es nicht, auf die politische Konfliktsituation hinzuweisen, in der Lenins philosophische Kampfschrift auch einen handfesten machtpolitischen Zweck im innerparteilichen Kampf um die Ausrichtung der russischen revolutionären Sozialdemokratie erfüllt:

Das Buch ist ein auf die damalige Parteisituation in Rußland zugeschnittene Anwendung einzelner Formulierungen von Engels. Es ist die Gelegenheitsarbeit des Führers, der energisch an das materialistische Wort erinnert und die Abweichung verfemt. Immer wieder hält Lenin die immer gleichen Sätze gegen immer neue Autoren, ohne dass eine neue sachliche Begründung gegeben wird: in der Welt existiert nichts als die sich bewegende Materie, die Materie bewegt sich in Raum und Zeit. Sie ist unabhängig von den Empfindungen, diese stellen nur das höchste Produkt der bestimmt organisierten Materie dar. Unsere Vorstellungen der Realität sind relativ, aber ‚bewegen sich in ihrer Entwicklung in der Richtung der absoluten Wahrheit, nähern sich dieser an’.19

Demnach hat Lenin zwar Erfolg darin gehabt, Horkheimer davon zu überzeugen, dass Machs Erkenntnistheorie in der Tat im Widerspruch zum Weltbild von Marx und Engels steht (was den russischen Machisten, die zugleich ja gute Marxisten zu sein versuchen, seinerzeit nicht klar gewesen ist); nicht jedoch scheint Lenin es mit seiner Argumentation geglückt zu sein, einen wirklich hieb- und stichfesten wissenschaftlich-theoretischen Nachweis dafür zu erbringen, dass die materialistische Weltsicht in der Tat richtig sei, die idealistische oder machistische hingegen irregeleitet – zumindest keinen, der den an Kant und Cornelius geschulten Frankfurter kritischen Theoretiker hätte vollständig zufriedenstellen können.

Auch tadelt Horkheimer Lenin dafür, den gleichen Fehler zu machen wie Mach und seine Anhänger, nämlich eigene unzureichend begründete abstrakte dogmatische Ansichten den unbegründbaren dogmatischen abstrakten Ansichten des Gegners konträr entgegenzustellen – anstatt souverän sich über derartige Ansichten zu stellen. Horkheimer:

Die bloße Entgegenstellung der eigenen abstrakten Glaubenssätze gegen einzelne Ansichten Machs paßt wenig zu dem sonst von Plechanow und Lenin eingeschärften hegelianischen Satz: ‚es gibt keine abstrakte Wahrheit, die Wahrheit ist stets konkret’.20

Allerdings befindet Lenin sich in einer Situation, in der er unmittelbar als Zeitgenosse am philosophischen Handgemenge beteiligt ist, in dem er persönlich sich zu bewähren und durchzusetzen bestrebt ist, wohingegen Horkheimer aus einer sehr viel weniger riskanten Position der geschichtlichen Distanz auf den vor längerer Zeit schon ausgefochtenen Schlagabtausch zurückblickt. Wollen wir versuchen, Lenin gegen Horkheimers Vorwurf, dass er die Dialektik viel zu kurz kommen lasse, zu verteidigen, dann könnte auch eine Gegenüberstellung von Materialismus und Empiriokritizismus mit Engels’ Anti-Dühring erhellend wirken: Wenn wir die Aufgabe, vor der Lenin steht, mit den Zielen von Engels bei der Arbeit an seiner gegen den vulgärmaterialistischen Demagogen Dühring gerichteten Schrift vergleichen, dann ging es für Engels in erster Linie um die Bekämpfung eines Gegners, der sich selbst zwar auf dem Standpunkt des Materialismus wähnt, der den Materialismus in Unkenntnis der Dialektik aber völlig entstellt; aus diesem Grund unterstrich Engels „mehr den dialektischen Materialismus als den dialektischen Materialismus, [legte] mehr Nachdruck auf den historischen Materialismus als auf den historischen Materialismus.”21 So ging es für Engels also ganz um die Verteidigung eines dialektischen Materialismus (mit Betonung auf „dialektisch”, da der Materialismus vom vulgärmaterialistischen Opponenten ja grundsätzlich bereits zugestanden wurde). Lenin hingegen muss sich einer ganz anders gelagerten Herausforderung stellen: Der Materialismus wird vom philosophischen Gegner ganz vehement für veraltet und überflüssig erklärt; der Marxismus soll dementsprechend vom Materialismus gereinigt werden. Die Dialektik ist in dieser Auseinandersetzung also überhaupt kein ideologischer Kampfplatz, weshalb sie unbeschadet im Hintergrund verbleibt. Der ost-marxistische Literaturwissenschaftler Werner Krauss erläutert:

Die Gefahr der idealistischen Versuchungen ist in Lenins Zeit größer gewesen als zur Zeit von Marx und Engels. Die Begründer des Sozialismus mußten vor allem ihre dialektische Methode gegen den herrschenden Vulgärmaterialismus durchsetzen. Zu Lenins Zeit hatte die reaktionär gewordene Bourgeoisie auf breiter Linie den Anschluß an den vorhegelschen Idealismus wiederhergestellt. Daraus ergibt sich die von Lenin geäußerte Notwendigkeit, den dialektischen Materialismus mehr zu betonen als den dialektischen Materialismus.22

Kritische Aufhebung

Obwohl Horkheimer mit seinen Einwänden im kritischen Mittelteil kein einziges gutes Haar an der Argumentation von Materialismus und Empiriokritizismus zu lassen scheint, gelangt er am Schluss seines Manuskripts in einer überraschenden Wendung unerwarteterweise dann doch zu einer leninfreundlichen Gesamteinschätzung, zumindest was Funktion und Anliegen von Lenins erkenntnistheoretischer Arbeit betrifft; nachdem Horkheimer viele der auch von Seiten der neokantianisch geprägten Fachphilosophenwelt zu erwartenden Einwände abgearbeitet hat, vollzieht er eine die berufsmäßigen Grenzen des akademischen, rein innerphilosophischen Philosophierens sprengende radikale Kehrtwende, mit der er eine Perspektive eröffnet auf auch außerphilosophische Zusammenhänge, wie sie das wechselseitige Verhältnis von gesellschaftlicher Realität und philosophischer Praxis bestimmen. Hierbei nimmt er Mach weiterhin in Schutz, allerdings nur insofern dessen Ansichten in der Zwischenkriegszeit bereits weitgehend von „den Universitäten verbannt” wurden, wobei auch mit einem baldigen Verschwinden der mit Mach verbindbaren „positivistischen Restbestände im Kleinbürgertum” zu rechnen sei; daher bestehe der „wichtigste aktuelle Sinn des Buches[…] überhaupt nicht in den sachlichen Argumenten gegen Mach”0—stattdessen gebraucht Horkheimer den von Lenin aufgegriffenen kämpferischen Impuls, um ihn (anstatt gegen Mach) in Richtung auf eine materialistische Kritik gegen die in seiner Zeit die philosophischen Institute bereits zunehmend beherrschende idealistische Rückkehrbewegung zu philosophischer Mystifizierung und Metaphysik weiterzuführen. „Die Philosophie der gegenwärtigen Phase des Imperialismus” seiner Zeit kritisiert Horkheimer als „pantheistische Ontologie” und „Pseudosachlichkeit – ganz entgegengesetzt dem Machschen Szientivismus und Nominalismus.”23

Zugleich erfüllt die Auseinandersetzung mit Lenin wohl auch eine Funktion als methodischer Augenöffner auf dem Weg seiner schrittweisen Entwicklung vom Corneliusschüler zum kritischen Theoretiker für Horkheimer; durch seine Leninstudien sieht der noch relativ junge Privatdozent sich weiter darin bestärkt, Philosophie nicht länger in einer vorgeblichen Sphäre „sozialer Beziehungslosigkeit” und fachzünftlerisch abgehobener Isolation betreiben zu wollen, sondern sie vielmehr „im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Ganzen zu verstehen, in dem sie sich entwickelt, dem ihre Inhalte entstammen und in dem sie wirkt […].“25 Indem er in dieser Weise einen kritischen Perspektivwechsel einleitet, fegt Horkheimer mit einer Handbewegung sozusagen das gesamte Gewicht aller fachphilosophischen Einwände gegen Materialismus und Empiriokritizismus wieder beiseite; sicherlich kann man die fachunkundige Arbeit des philosophischen Außenseiters Lenin aus handwerklichen Gründen für anfechtbar halten – andererseits aber handelt es sich bei Materialismus und Empiriokritizismus wohl doch um ein Werk, das trotz seiner zeitverschuldeten Einseitigkeit dazu geeignet ist, in aufklärerischer Weise den kritischen Leser dazu zu provozieren, sich die philosophischen Scheuklappen von den Augen zu reißen und sich auf wissenschaftstheoretischem Gebiet nicht so leicht mehr in die Irre führen zu lassen.

Zunächst allerdings versucht Horkheimer dann doch, eigenhändig nachzuholen, was ihm bei Lenin nicht bis zu letzter Konsequenz durchgeführt erscheint: Anstatt der antirealistischen Theorie Ernst Machs in direkter Weise argumentativ entgegenzutreten, unternimmt er den Versuch, in indirekter Verfahrensweise ihre ideologische Funktion unter den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Zeit aufzuzeigen. Wie Alfred Schmidt hervorhebt, vermisst Horkheimer „im Buch des russischen Revolutionärs die Anwendung des historischen Materialismus auf die kritische Analyse der machistischen Lehren”; hierfür rekurriert Horkheimer (wobei er in seiner Kritik an Lenin auf Marx und Engels zurückgreift) „am Ende seines Vortrags auf berühmte Sätze der Deutschen Ideologie”,26 nach denen die „Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins[…] unmittelbar verflochten [ist] in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen” und wonach auch sogar „die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen[…] notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses [sind].”24

Das Sein bestimmt das Bewusstsein – dies gilt ganz gewiss auch für die erkenntnistheoretischen Nebelbildungen im Umfeld des Empiriokritizismus. Die von Marx und Engels umrissene Aufgabe, auf die Herausforderung durch die Lehren Machs angewandt, formuliert Horkheimer dann wie folgt:

Es wäre[…] zu zeigen gewesen, wie aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit Österreichs um die Jahrhundertwende die kleinbürgerliche Philosophie Machs entstehen konnte […], welche soziale Situation sich in einer solchen Philosophie ausdrückt[…] Lenin hätte[…] dann vielleicht gefunden, daß diese erkenntnistheoretische Philosophie, die das Kriterium für alle Erkenntnis in die Empfindungen des Einzelsubjekts verlegt und die Welt mit dem Bewußtsein des Bürgers identifiziert,[…] notwendig einem selbstbewußteren Kleinbürgertum entspricht, das an größere Aufstiegschancen in seiner Gesellschaft glaubt und einen ungebrocheneren Fortschrittsglauben für den einzelnen aus seiner Klasse hat, als es in der späteren Zeit der stabilen Trustherrschaft der Fall sein kann.25

Unter den Bedingungen der „stabilen Trustherrschaft” in der Zeit um 1928, da in der Spätphase der Weimarer Republik sich bereits die bevorstehende nationalsozialistische Katastrophe abzuzeichnen beginnt, stellt der Machismus sich kaum noch als ernst zu nehmende Herausforderung dar und hat auch im bürgerlichen Lager schon längst seine intellektuelle Anziehungskraft eingebüßt – denn:

Die Zeiten, in denen jedes individuelle Subjekt sich selbst als Erbauer und Kritiker seiner eigenen Welt erscheinen konnte, sind vorbei. Kant und Mach werden philosophisch mit denselben Kategorien bekämpft wie der Marxismus und erscheinen als neunzehntes Jahrhundert.26

Auch zeige die gesellschaftliche Praxis „heute andere Züge als der Kapitalismus von 1908, und mit ihm sind die herrschenden metaphysischen Vorstellungen andere geworden. Daß die ‚Begeisterung für den Empiriokritizismus und den ‚physikalischen’ Idealismus (rasch) verraucht’, hat Lenin [in Materialismus und Empiriokritizismus] selbst vorausgesagt.”27

Zugleich hält Horkheimer aber durchaus daran fest, dass es sich trotz aller fachphilosophischer Mängel und Beanstandungen um ein aktuell bedeutsames Buch handelt, denn in unveränderter Weise problematisch sei weiterhin noch immer „die allgemeine Funktion der Ideologie in der Klassengesellschaft überhaupt. Soweit das Buch diese Funktion in ihrer Allgemeinheit betrifft, ist es trotz aller fachlichen Unkundigkeit und trotz des in Stil und Anlage zutage tretenden Gelegenheitscharakters keineswegs veraltet.”28

Alfred Schmidt gelangt schließlich zu der Einschätzung, dass Horkheimers Auseinandersetzung mit Materialismus und Empiriokritizismus „eine bedeutende Etappe seiner philosophischen Selbstverständigung” darstellt;29 dies scheint auch aus dem abschließenden Satz von Horkheimers Lenin-Manuskript deutlich zu werden:

Solange die Unterhaltung ‚philosophisch’ bleibt, läßt sich die gegenwärtige Metaphysik so wenig begreifen wie irgendeine frühere, der kritische Ernst beginnt mit der barbarischen Grenzüberschreitung zur Ökonomie und Politik, und in diese Richtung weist Lenins Buch. Er hat die Philosophie ernst genommen.30

Dies Schlusswort könnte vielleicht als Anzeichen dafür interpretiert werden, dass Horkheimers Weg der Emanzipation von etwaigen idealistischen, positivistischen und neokantianischen Vorprägungen durch seinen von Lenin in polemischer Weise befehdeten und beschimpften machistischen Doktorvater Cornelius nun womöglich als unumkehrbar angesehen werden kann. Als Belegstelle für einen fortgesetzten Einfluss Lenins auf Horkheimer führt Schmidt auch einen Textabschnitt aus dem Aufsatz Materialismus und Metaphysik aus dem Jahre 1933 an:

[Der Materialismus] ist das genaue Gegenteil der Verabsolutierung bestimmter Wissensgebiete[…]. Keinesfalls ist der Materialismus auf eine bestimmte Auffassung von der Materie festgelegt, vielmehr entscheidet darüber keine andere Instanz als die fortschreitende Naturwissenschaft selbst.31

Wer mit Materialismus und Empiriokritizismus ein wenig vertraut ist, der kann hierin vielleicht eine Konsequenz von Lenins minimalistisch weiterentwickelter philosophischer Materiedefinition erkennen; somit scheint eine weiter anhaltende Nachwirkung fortzudauern, insofern die Auseinandersetzung mit der erkenntnistheoretischen Thematik Lenins sich auch in späteren Werken Horkheimers fortsetzt, wenn auch zumeist in impliziter Weise und nicht auf den ersten Blick sofort erkennbar – Schmidt erläutert, es handele sich „um indirekte, nur vom Kenner zu entschlüsselnde Äusserungen.”32 Somit müsste, wer Horkheimer und die Kritische Theorie wirklich verstehen will, zuerst einmal vielleicht Lenins Buch Materialismus und Empiriokritizismus in die Hand nehmen. | P


  1. Vgl. Alfred Schmidt: Editorische Vorbemerkung; in: Max Horkheimer: Über Lenins Materialismus und Empiriokritizismus. In: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Bd. 11, Frankfurt/M 1987, S. 171.
  2. Vgl. Max Horkheimer: Lenin, Empiriokritizismus. MHA, VIII 15d; http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/horkheimer/content/pageview/6553849; [abgefragt: 30.08.2016].
  3. Lenin: Материализм и эмпириокритицизм. Критичекие заметки об одной реакционной философии. [Moskau] 1979. Nachdruck: Moskau 2010, S. 214.
  4. Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In: Karl Marx u. ders.: Studienausgabe. Bd. 1, Philosophie. Iring Fetscher (Hg.), Frankfurt/M 1966, S. 192f; zit. in: Horkheimer Lenins Materialismus 1987, S. 176.
  5. Ebd.
  6. Alfred Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. Mit einem Nachwort zur 5. Auflage von Michael Jeske. Hamburg 2016 (1962), S. 77.
  7. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie. Moskau 1947, S. 276 (auch: Wien u. Berlin 1927, S. 261f ); (russisch:) Moskau 2010, S. 255. Zit. in: Horkheimer Lenins Materialismus 1987, S. 176; zit. auch in Schmidt Begriff der Natur 1971, S. 77f (Hervorhebungen: Lenin)
  8. Horkheimer: Lenins Materialismus 1987, S. 176.
  9. Ebd.
  10. Ebd. S. 176f.
  11. Ebd. S. 177; [Änderungen] oder Auslassungen[…] in eckigen Klammern: m.j.
  12. Ebd.
  13. Ebd.
  14. Ebd. S. 177f.
  15. Ebd. S. 178.
  16. Ebd. S. 179.
  17. Ebd. S. 180.
  18. Ebd.
  19. Ebd. S. 183.
  20. Ebd. S. 184.
  21. Lenin Empiriokritizismus 1947, S. 355 (Hervorhebungen: Lenin).
  22. Werner Krauss: Das Ende der bürgerlichen Philosophie. In ders.: Literaturtheorie, Philosophie und Politik. M. Naumann (Hg.), Berlin u.a. 1984, S. 505 (Hervorhebungen: W. Krauss).
  23. Ebd. S. 186.
  24. Karl Marx u. Friedrich Engels: Deutsche Ideologie. In dies.: MEW Bd. 3, S. 26f; zit. in: Schmidt Lenins Streitschrift 1987, S. 424.
  25. Max Horkheimer: Lenin, Empiriokritizismus. Zit. in: Schmidt : Lenins Streitschrift 1987, S. 425 (MHA, VIII 15d, S. 11).
  26. Horkheimer: Lenins Materialismus 1987, S. 186.
  27. Ebd. S. 187; hier zitiert: Lenin Empiriokritizismus 1947, S. 370 [hier: ‘vergeht’ statt ‘verraucht’]; russ. 2010, S. 335.
  28. Ebd. S. 187.
  29. Schmidt: Lenins Streitschrift 1987, S. 425.
  30. Horkheimer: Lenins Materialismus 1987, S. 188.
  31. Max Horkheimer: Materialismus und Metaphysik. In: (Hg.): Alfred Schmidt: Kritische Theorie, Bd. I, Frankfurt/M 1968, S. 56; zit. in: Schmidt Vorbemerkung 1987, S. 172.
  32. Schmidt: Vorbemerkung 1987, S. 172. — Noch in der amerikanischen Emigration hat Horkheimer es verstanden, einen kaum versteckten Hinweis auf Materialismus und Empiriokritizismus in seinem in englischer Sprache entstandenen Werk Eclipse of Reason unterzubringen: “[… T]he schools that call themselves empiriocriticism [!] or logical empiricism prove to be true varieties of old sensualistic empiricism. What has been consistently maintained with regard to empiricism by thinkers so antagonistic in their opinions as Plato and Leibniz, De Maistre, Emerson, and Lenin [!!], holds for its modern followers.” Horkheimer, Max: Eclipse of Reason. New York 1947 (Nachdruck: 1974), S. 78. (Deutsch:) Ders.: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Alfred Schmidt (Übers.), Frankfurt am Main 1985 (1967), S. 81; zit. auch in: Schmidt Vorbemerkung 1987, S. 173.

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