Rezension zu „Kritik des politischen Engagements” von Gerhard Scheit
Walter Benjamin hat über Robert Walser geschrieben, dieser setze ein, wo die Märchen aufhören: bei ihrer Nachgeschichte. „‘Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch.‘ Walser zeigt, wie sie leben.”1 Frei im Anschluss daran kann über das Buch Kritik des politischen Engagements2 gesagt werden, dass Gerhard Scheits Reflexion da ansetzt, wo die Utopien aufhören, und aufweist, wie Theorie nach ihrem Ende überlebt. Das im Herbst 2016 im ça ira Verlag erschienene Werk möchte erweisen, „warum das Engagement für Israel, wird es nur beharrlich genug betrieben und reflektiert, die Kritik des politischen Engagements beinhaltet” (S. 708). Politisches Engagement, soweit sei hier gesagt, reflektiert auf eine doppelte Bedeutung: denn wer sich politisch engagiere, der sei auch vom Politischen engagiert. „Wer sich für einen bestimmten Zweck engagiert, erfährt, wenn er sich nicht dumm machen lässt, stets aufs Neue, in welcher Weise er vom Souverän der Zwecklosigkeit, vom Selbstzweck des Kapitals, längst engagiert ist und schließlich doch nur dessen Sache betreibt” (S. 375). Das Politische selbst, in seinem Begriff, lässt nach Gerhard Scheit das Verhältnis des Staates zu den Bürgern und die Macht, die jener über diese habe, verschwinden. Was auf Gewalt und der Einforderung des notwendigen Opfers des Einzelnen beruht, auf den gesellschaftlichen Verhältnissen des staatlichen Souveräns, wird dezisionistisch gewendet. Damit wird nach Scheit en passant der Ursprung „der organisierten Gewalt, die nötig ist, die Entscheidung überhaupt umzusetzen” (S. 265), verdrängt. An dieses Problem will Gerhard Scheit nun anschließen, indem er ideologiekritisch versucht, Politik mit ihrer eigenen Grundlage, den Gewaltverhältnissen, zu konfrontieren. Hierin begreift er sich in der Fortführung dessen, was Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der _Dialektik der Aufklärung _begannen, als sie die Verdrängung des Leibes als nicht objektivierte Körperlichkeit reflektierten. Diesem Anliegen verpflichtet, unterzieht Scheit die Philosophien Thomas Hobbes’ und Baruch Spinozas einer eingehenden Analyse, kritisiert Martin Heidegger, Carl Schmitt, Giorgio Agamben und andere.
Es ist nicht einfach, sich diesem Buch gegenüber zu verhalten. Worauf man zuerst trifft, ist der stilistische Gestus, der signalisiert, dass jede Frage fehl am Platz ist. Es liest sich mehr wie ein Dekret denn als eine Erklärung, wieso die Welt ist, wie sie ist. Das Subjekt, dessen Leib gerettet werden soll, bleibt als Leser*in außen vor. Kritik des politischen Engagements hält leider nicht, was der Titel verspricht. Kritik, nicht als einfaches Aburteilen verstanden, sondern als differenzierendes Auseinanderlegen eines Gegenstandes, das konsequente Fortdenken der Prämissen der Kritisierten, um deren immanente Kritik voranzutreiben, ist mit den Werken von Immanuel Kant und Karl Marx verbunden. Immanuel Kant hatte in seiner _Kritik der reinen Vernunft unternommen, _das Erkenntnisvermögen selbst zu erkennen, die Widersprüche der empiristischen und rationalistischen Erkenntnistheorie auseinanderzulegen. Damit sollten der Vernunft ihre Grenzen durch sich selbst aufgewiesen werden, sodass ein positives Resultat festgehalten werden konnte: die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt. Demgegenüber verfolgte Karl Marx in seiner _Kritik der politischen Ökonomie _ein im Kern negatives Projekt. Mit der immanenten Darstellung der politischen Ökonomie konnte er aufzeigen, wie diese vor der Systematizität der kapitalistischen Produktionsweise kapitulieren musste und so Geschichte in Natur umschlug,3 indem der „Austauschprozeß der Waren als die naturgemäße gesellschaftliche Form”4 erscheint. In der kritischen Darstellung des Kapitals als System gelang es Marx, dieses analytisch aufzubrechen, indem er zeigte, dass es als historisch Gewordenes auf sozialen Voraussetzungen beruht, die aufzuheben der Akt menschlicher Selbstbefreiung wäre. Ihre Vorhaben einzulösen, war Kant wie Marx nur möglich, weil sie sich tief in ihren Gegenstand einließen, dem sie – wie Marx etwa den klassischen Ökonomen seiner Zeit gegenüber – nicht geringen Respekt entgegenbrachten.
Nun wäre es wirklich zynisch zu verlangen, Gerhard Scheit müsse, um seinem programmatischen Titel gerecht zu werden, einen vergleichbaren Respekt für Carl Schmitt oder Martin Heidegger aufbringen, wie es Marx gegenüber Adam Smith und David Ricardo getan hat. Auch kann man nicht verlangen, dass sich der Charakter der Kritik dem Gegenstand gemäß nicht verändern dürfe. Dass sich eine Kritik der Verdrängung von Gewalt im Politischen nicht schreiben lässt wie die Kritik der politischen Ökonomie, ist einzusehen. In klarer Abgrenzung zur Kritik des Liberalismus schrieb einst Theodor W. Adorno: „Wollte man etwa die sogenannte Ideologie des Nationalsozialismus ebenso kritisieren, man verfiele der ohnmächtigen Naivität.”5 Denn: „Ideologiekritik, als Konfrontation der Ideologie mit ihrer eigenen Wahrheit, [ist] nur soweit möglich, wie jene ein rationales Element enthält, an dem die Kritik sich abarbeiten kann.”6 Darin ist das wichtige Moment festgehalten: dass dort, wo die „pathische Projektion” das Ziel der Weltaneignung wird, von „notwendig falschem Bewusstsein”7 kaum noch zu sprechen ist. Allerdings, und darauf zielt meine Kritik Gerhard Scheits hin, kann man es sich in der Feststellung dieser Differenz nicht gemütlich machen. Denn was Adorno hier analytisch trennt, ist in der Wirklichkeit nicht absolut geschieden.
Wie die Elemente des Antisemitismus im Anschluss an Immanuel Kant festhalten, hat jede Erkenntnis – auch jene, die sich der Wahrheit verpflichtet – ein Moment in der Projektion. „Daher vollzieht sich jenes Reflektieren, das Leben der Vernunft, als bewußte Projektion.”8 Als solche kann sie immer auch scheitern, besonders dort, wo die gesellschaftliche Vermittlung in ihrem dinglichen Resultat verschwindet9 und so dem Ausfall der gedanklichen Vermittlung Vorschub leistet. Wir können das am Umschlagen des gesellschaftlich Spezifischen in das natürlich Normale in der politischen Ökonomie sehen, wenn gesellschaftliche Verhältnisse als Natureigenschaften erscheinen.10 Gerade weil der Fetischcharakter der Ware keine Projektion im Sinne einer Zuschreibung ist, sondern sich aus der Form sozialer Praxis begründet, ist er objektiv prädestiniert, vom Subjekt in naturalisierender Projektion erfasst zu werden. Die ihm aufsitzende Theorie ist eine Theorie der falschen Unmittelbarkeit, die dem subjektiven Urteil unterliegt, das faktische Resultat wäre das Ganze. Die Naturhaftigkeit der ökonomischen Kategorien ist somit eine Projektion, die ihren Ursprung im Gegenstand hat, sich ihres eigenen Ursprungs aber nicht erinnern kann und so in falscher Unmittelbarkeit verharrt. Umgekehrt, so der Versuch Moishe Postones, müsse noch spekuliert werden, wo der eliminatorische Antisemitismus selbst noch in einem „historisch-erkenntnistheoretischen Zusammenhang” konstituiert wird.11 Mit der Engführung seiner Argumentation an der Marx‘schen Analyse der Warenform versucht Postone, die epistemologische Historizität des modernen Antisemitismus zu begründen. Das Wahnbild des Antisemitismus finde seine verkehrte Wahrheit darin, dass die Herrschaft des Abstrakten – durch das Konkrete vermittelt – die wirkliche Bewegungsform des Kapitals darstellt. Zusammengefasst heißt das: Wahn und Wirklichkeitsbezug teilen sich ebenso viel, als sie voneinander trennt. Die Feststellung, dass der Nationalsozialismus nicht derselben Form der Kritik zu unterziehen ist, die dem „notwendig falschem Bewusstsein” adäquat war, hat noch wenig über die Form der Kritik gesagt, die jenem adäquat wäre.
In der Dialektik der Aufklärung untersuchen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer den Umschlag von Mimesis – dem Sich-der-Umwelt-ähnlich-Machen12 als ein Moment der Erkenntnis – in „pathische Projektion”. Im Anschluss an dieses Unternehmen versteht sich auch die Analyse von Hobbes und Spinoza bei Gerhard Scheit. Diese Studie am Anfang von Kritik des politischen Engagements verschreibt sich dem Bergen verschütteter Liberalität bei den dunklen, frühbürgerlichen Philosophen. Scheit findet bei Hobbes festgehalten, dass die Grenze des Staates der Leib der Bürger sein müsse, eine Erinnerung an die Leibhaftigkeit des zivilisatorischen Anspruchs. So verhandelt Hobbes‘ Theorie des Leviathan den Tod für den Staat nicht affirmativ. Die Untersuchung Gerhard Scheits enthält Momente, die dieses Selbstverständnis des Anschlusses an die Dialektik der Aufklärung rechtfertigen. Allerdings fragt man sich, ob es sich dabei um eine ausführende Illustration der betreffenden Stellen der Dialektik der Aufklärung handelt oder um deren staatskritische Ergänzung. Es wird nämlich zu Recht die Unterbelichtung des Staates in der Kritischen Theorie kritisiert.
Die Rolle des Souveräns bei der Verdrängung der Natur im Subjekt, die Ideologie des leibhaftigen Todes für die Gemeinschaft, wäre jedoch genauer auf die Frage hin zu untersuchen, wie sie sich quer zu Freiheit und Notwendigkeit im Subjekt manifestiert. Die Überwältigung des Individuums durch die Wirklichkeit im Antisemitismus muss als Dreiheit sozialer Naturzwänge, den unterdrückten Ansprüchen des Subjekts und dem restriktiven Staat als „gesellschaftlichem Über-Ich” vermittelt werden. Damit soll ausgedrückt werden, dass der Wille, den Wahn zu glauben, sowohl der inneren Spannung von Bewusstem und Unbewusstem als auch der Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Einzelnen unter Staat und Kapital entspringt, in welche gesetzt das reflektierende Subjekt sich stets nur a posteriori erkennen kann. Die Bedingungen – diesen Akt der Freiheit, der im Erkennen der eigenen Bedingtheit liegt, zu vollziehen – werden aber von Scheit am isolierten Subjekt der Erfahrung festgemacht: „Als Erfahrung ist Freiheit jedoch das Vermögen, sich dieses unauflöslichen Zusammenhangs mit der Natur bewusst zu werden, und gerade dadurch seine Unterwerfung als gesellschaftliches Wesen zu erfassen” (S. 353).
Die Reduktion des Erfahrungsbegriffs auf die Beziehung des „einzelmenschlichen Bewusstseins auf den Leib des Einzelnen”13, d.h. die Erfahrung, ohne ihre Gebundenheit an sozial-wirksame Praxis reflektiert, führt hier zu einer Reduktion des Reflexionsrahmens auf das vereinzelte Einzelne. Sozialer Katalysatoren von Erfahrung entledigt, kann nur das Subjekt Grund seiner Erfahrungsfähigkeit bleiben. Damit wird das Eingedenken der Natur im Subjekt zum individuellen (Un-)Vermögen. Das wird bereits an einer bestimmten Unschärfe der Kritischen Theorie Theodor W. Adornos deutlich: Der Vorschlag, den Wahn des Nationalsozialismus adäquat zu erfassen, den er im Anschluss an das oben Zitierte in seinem Aufsatz zur Ideologienlehre unterbreitet, ist selbst eher einem Sprung als einem Argument zu verdanken. Er proklamiert, dass dort, wo „der Begriff von Ideologie, von notwendig falschem Bewusstsein gar nicht mehr unmittelbar trifft”14, das manipulativ Ausgedachte, das „bloße Herrschaftsmittel”15 wieder zu seinem Recht kommt. Der Analyse des Wahns wird die Spur seiner gesellschaftlichen Vermittlung undurchsichtig. Das zeigt die Schwierigkeit, die negative Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft in der Gegenüberstellung von Freiheit und Notwendigkeit zu erfassen, welche selbst nur die Idee der Emanzipation enthält. Wo die bürgerliche Freiheit Ideologie, die unbedingte Notwendigkeit aber ebenso falscher Schein ist, kann der Modus des Subjekts – von seiner nur möglichen Befreiung aus gedacht – nicht eindeutig erfasst werden. Dasselbe gilt auch für das Subjekt, dass sich dieser Uneindeutigkeit durch Selbstaufhebung entziehen will.
Wenn Gerhard Scheit im Anschluss an Jean-Paul Sartre davon schreibt, dass der Antisemit seinen Wahn wähle, reiht er sich eben in dieses Misslingen der Analyse des antisemitischen Subjekts ein: „Der Antisemitismus ist ‚pathisch‘ gerade insofern, als er eben nicht als notwendig in demselben hinreichenden Sinn begriffen werden kann, in dem Ideologie als das falsche Bewusstsein definiert ist” (S. 370).[^.] Während hier bei der Wahl des Antisemiten das subjektive Zutun verabsolutiert wird, wird das subjektive Inkrement in der Entstehung und Aufrechterhaltung der Ideologie ignoriert. Die These gerät damit selbst zur Ideologie, da sie der Notwendigkeit der Ideologie auf den Leim geht, indem der jeweils subjekt-vermittelte Beitrag zu dieser Ideologie übersehen wird. Ideologie ist zwar notwendig falsches Bewusstsein, weil objektiv induziertes, die Wirklichkeit verkehrt begreifendes Bewusstsein, aber nichtsdestotrotz das Bewusstsein eines Subjekts. Dass es an der Naturhaftigkeit der Warenförmigkeit sozialer Beziehungen nichts ändere, sie als historisch spezifisches Resultat unbewusst-kollektiver Praxis zu begreifen, stimmt insofern, als sie uns weiterhin als gesellschaftliche Übermacht gegenübertritt. Ob sie uns aber in der Form der änderbaren oder unabänderlichen Übermacht gegenübertritt, macht den Unterschied von Souveränität (lat. Überlegenheit) und Allmacht aus. Während diese zur individuellen Resignation verdammt, ermöglicht das Erkennen jener die Frage nach der Überwindung der auf Gewalt fußenden Souveränität.
In dem Leiden, welches um seiner Taubheit willen das absolute Grauen hervorbringt, ist nach der Dialektik der Aufklärung „ein Element der Wahrheit enthalten gegenüber dem bloßen Hinnehmen des Gegebenen, auf das die überlegene Vernünftigkeit sich vereidigt hat.”16 Doch flüchtet sich dieses Leiden, statt in das konsequente Denken, in die Formel. Dort findet es, wie Jean-Paul Sartre feststellt, sein Vorbild in der Starrheit des Steins. Diese Flucht lässt sich im Anschluss an Theodor W. Adorno und Max Horkheimer aber nicht als eine Wahl des Ich (im psychoanalytischen Sinne) verstehen. Von diesen wird die „pathische Projektion” mit dem Druck des Über-Ichs, der Verzweiflung, dem Vergessen, dem nicht Vermögen, erfasst. Damit ist die Antisemitin weder zu diesem Wahn determiniert, noch aus eigener Wahl wahnhaft, sondern im Antisemitismus finden die unterdrückten Sehnsüchte wie die bewussten Bestrebungen nach Aufhebung der Kränkung eine gesellschaftlich verbindliche, weil kollektive, Form.
Die zentrale Frage wäre nun, was die Bedingungen sind, unter welchen diesem Druck weniger nachgegeben würde; wo an die Stelle der Verzweiflung der berechtigte Zweifel an dem Zustand der Welt rücken könnte; wo die destruktive Projektion des Verdrängten verhindert würde, indem das Subjekt sich einer Zukunft entgegen richten könnte. Nicht umsonst endet die zitierte These in der Dialektik der Aufklärung mit dem Satz: „Die individuelle und gesellschaftliche Emanzipation von Herrschaft ist die Gegenbewegung zur falschen Projektion, und kein Jude, der diese je in sich zu beschwichtigen wüßte, wäre noch dem Unheil ähnlich, das über ihn, wie über alle Verfolgten, Tiere und Menschen, sinnlos hereinbricht.”17 Wo individuelle und gesellschaftliche Emanzipation Bedingung sind, gelangt man dahin, was im besten Sinne die politische Bearbeitung sozialer Konflikte war. Politisch nicht in dem Sinne, sich einfach an die Stelle der alten Gewalt zu setzen, sondern die praktische Denunziation der gesellschaftlichen Gewalt durch Staat und Kapital – also Politik, die ihrer Selbstaufhebung zustrebt. So sollten die Formen des Souveräns, die, wie Gerhard Scheit festhält, Formen der Gewalt gegen Leib und Leben sind, abgeschafft werden. Gerhard Scheit, und das ist nur verständlich, will dieser Widersprüchlichkeit entkommen, politisch die Aufhebung von Politik, damit die Aufhebung von Gewalt und damit die Aufhebung der objektiven Grundlagen des Antisemitismus zu betreiben. Doch gerät hier die bestimmte Negation zur abstrakten, wenn er schreibt, die Verhinderung der Wiederholung von Auschwitz „hat im Zweifelsfall der konkreten, einzelnen Situation Vorrang gegenüber der Möglichkeit, den Stand der Unfreiheit in toto, der doch Auschwitz zugrunde liegt, abzuschaffen” (S. 11). Nun gibt es zweifellos Anlass dazu, sich dieser Frage zu stellen: sei es in der Verhinderung eines iranischen Atomwaffenprogramms, sei es im erfolgreichen In-Schach-Halten des notorischen Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft. Doch wer über die gesellschaftliche Wirkmächtigkeit verfügt, dies zu leisten, der muss sich vorher, angesichts der Marginalität einer emanzipatorischen Linken heute, andere Fragen der Handlungsfähigkeit gestellt haben. Dieser Herausforderung, die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit einer politisch handlungsfähigen Linken konkret zu stellen, entschlägt sich das Buch jedoch.
Was der Nationalsozialismus den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit aufgezwungen hat, war eben nichts weniger als die Verpflichtung, die Verhältnisse so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, also die objektiven Bedingungen der subjektiven Ohnmachtserfahrungen abzuschaffen, die im antisemitischen Kollektiv ihre vernichtende Abfuhr erfahren, kurz: revolutionär zu werden. Zurecht hält Gerhard Scheit den kategorischen Imperativ Adornos gegenüber all denen hoch, die von der Vernichtungskraft des Antisemitismus nichts wissen wollen. Aber dabei begreift er diesen Imperativ implizit als Ersatz anstatt als historisch konkretisierte Form der Imperative von Immanuel Kant und Karl Marx; und beraubt ihn damit seiner tatsächlichen Bedeutung für das Leben der Jüdinnen und Juden. Auch wenn keine Rede davon sein kann, dass die Revolution vor der Türe steht, wäre es umso angemessener, die eigene Solidarität mit den Jüdinnen und Juden darin zum Ausdruck zu bringen, worin man ihnen wirklich zur Seite stehen kann, nämlich nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Linken zu fragen, die den antisemitischen Wahn überwinden könnte.
Der antisemitische Charakter der Gesellschaft ist bei Gerhard Scheit Ausgangspunkt jeder Reflexion. Sie führt ihn praktisch auf den Appell zurück, konkrete Abwehrkämpfe wären das letzte Mittel, das dem Individuum bliebe, sich dem Imperativ Adornos gemäß zu verhalten (S. 11). Die grundsätzliche Veränderung der sozialpsychologischen Konstitution wird nicht einmal mehr als Ziel formuliert. Wer aber die Subjekte der antisemitischen Gesellschaft in einerseits hoffnungslose Fälle und andererseits sich als Subjekt erhaltende Kritiker*innen einteilt, steht dem Antisemitismus notwendig aussichtslos gegenüber und bleibt so darin gefangen, feststellen zu müssen, dass der Mensch nicht nur ein geknechtetes, sondern auch ein verächtliches Wesen ist. Sicherlich bestand ein Problem der scheiternden sozialistischen Bewegung darin, dass die Differenz von Wahrheit und Wahn zwar streng, aber nicht zwingend ist. Der Versuch, dem Antisemitismus mit der Konstruktion des Klassenbewusstseins beizukommen, war nicht dauerhaft erfolgreich. Dieses wurde zunehmend selbst als das „eigentliche Interesse” missverstanden, dem keine politische Konstruktion mehr vorausgehen müsse. Dass es a posteriori erscheint, als wäre das Scheitern dieser Konstruktion aus der eigenen Verstrickung in Gewaltverhältnisse notwendig gewesen, verstellt den Blick auf die Aufgaben einer herzustellenden Linken. Dieses Problem lässt sich in der Theorie nicht so lösen, dass an die Stelle des Arguments das deklamatorische Urteil tritt. Es gilt, um die sozialpsychologische Konstitution der Subjekte zu kämpfen, statt diese als verdinglichte Voraussetzung zu entpolitisieren.
Als emanzipatorische Aufhebung der Aufklärung muss es darum gehen, sich nach den Vermittlungsbedingungen von Utopie und Gegenwart zu fragen. Es muss gefragt werden, was bei aller historischen Differenz etwa am Anspruch Clara Zetkins für den Kampf gegen den Antisemitismus zu lernen ist: Sie wollte um die Herzen und Köpfe der Menschen kämpfen, „die zufolge der geschichtlichen Entwicklung der letzten Jahre unsicher geworden sind in ihrem Denken und Wollen, die die alte Weltanschauung verloren, ohne im Wirbelsturm der Zeit bereits eine neue, feste Weltanschauung gefunden zu haben. Lassen wir die Suchenden nicht zu Irrenden werden.”18
So sehr uns das kränken mag, und so sehr uns beim fortwährenden antisemitischen Wahn das Grauen aufsteigt: Die Subjekte der antisemitischen Gesellschaft sind Gegenstand politischer Kämpfe, die aufzugeben fatal und die zu gewinnen nur möglich ist unter dem Banner einer Utopie. Eine Utopie, die in der Lage ist, es mit dem Druck des Über-Ichs der Einzelnen aufzunehmen; eine Utopie, für die es sich zu emanzipieren lohnt. Betrachtet man den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft, so muss politischem Engagement sicherlich Verdrängung der eigenen Ohnmacht anhaften. Aber das Subjekt erhält sich und damit die Fähigkeit, sich von dieser Ohnmacht nicht dumm machen zu lassen, in der Zeit. Reflexion und Kampf um das, was gegenwärtig unmöglich scheint, schließen sich nicht aus. Sie setzen sich sogar in bestimmtem Sinne voraus. Denn Leiblichkeit, die verdrängte Natur am Subjekt, kann nur dort ihrer Verdrängung entraten, also befreit erscheinen, wo das menschliche Wesen sich verwirklichen kann – also dort, wo es als die Selbstentfaltungsmöglichkeit der Menschen erkannt würde; dort, wo unternommen wird, das Bestehende praktisch zu überwinden. Dort, wo die Menschen „ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft.”19 | P
Gerhard Scheit: Kritik des politischen Engagements. ça ira Verlag Freiburg 2016, 712 Seiten, 36 €
- Walter Benjamin: Robert Walser. In: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1. Frankfurt am Main 1977, S. 352. ↩
- Gerhard Scheit: Kritik des politischen Engagements. Freiburg 2016. Im Folgenden direkt im Text zitiert. ↩
- Karl Marx: Das Kapital. Der Produktionsprozess des Kapitals. Berlin 2008, S. 85ff. ↩
- Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. In: Marx Engels Werke Bd. 13. Berlin 1972, S. 41. ↩
- Theodor W. Adorno: Beitrag zur Ideologienlehre. In: Soziologische Schriften 1. Frankfurt am Main 1977, S. 465. ↩
- Ebd. ↩
- Ebd. ↩
- Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main 2008, S. 198. ↩
- Marx 2008, S. 107. ↩
- Ebd., S. 86ff. ↩
- Moishe Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus. 2005, S. 8. http://www.ca-ira.net/verlag/leseproben/pdf/postone-deutschland_lp.pdf ↩
- Horkheimer/Adorno 2008, S. 197. ↩
- Ebd., S. 345. ↩
- Adorno 1977, S. 465. ↩
- Ebd. ↩
- Horkheimer/Adorno 2008, S. 205. ↩
- Ebd, S. 209. ↩
- Clara Zetkin: Der Kampf gegen den Faschismus. 1923. https://www.marxists.org/deutsch/archiv/zetkin/1923/06/faschism.htm ↩
- Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: Marx Engels Werke Bd. 8. Berlin 1960, S. 117. ↩